1.12.2020–30.6.2021
Internationaler Literaturpreis 2021
Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen
Preisverleihung 30. Juni 2021
In Krisenzeiten kommt es mehr denn je darauf an, welche Art von Geschichten wir erzählen, welchen Skripts und Plots wir folgen, welchen Stimmen wir Vertrauen schenken. Auch 2021 begibt sich der Internationale Literaturpreis auf die Suche nach Texten, die etwas mit der Sprache machen – gerade weil sie uns als Übersetzungen erreichen.
Preisträgerinnen 2021
Der 13. Internationale Literaturpreis geht an Fatima Daas und Sina de Malafosse für den Roman Die jüngste Tochter und seine Übertragung aus dem Französischen. Fatima Daas erhält ein Preisgeld von 20.000 €, Sina de Malafosse erhält 15.000 €.
Die jüngste Tochter ist ein autofiktionaler Roman über das Leben einer jungen Frau in einem Pariser Vorort, auf der Suche nach einem Leben, das vereinen kann, was weitläufig nicht vereinbar zu sein scheint: queer und gläubig muslimisch zu sein.
Fatima Daas zeigt mit der Verletzlichkeit dieses Buchs, dass sie der Kraft der Literatur vertraut. Mit der Geschichte der jungen Frau, die den Namen der jüngsten Tochter des Propheten trägt, eilt sie dem Leben voraus, und wir kommen ihm lesend auf die Spur. Fatima Daas‘ Worte sind so präzise und kraftvoll gesetzt, weil sie weiß, dass sie ihrer Worte bedarf, um eine Welt zu entwerfen, in der sie leben will. Und sie erzählt von dieser Welt unerhört zeitgemäß und in aller Selbstverständlichkeit und Spannbreite auf Traditionen der arabischsprachigen Literaturen bezogen. Die Rhythmik, die Wiederholungen, die magischen Aufladungen einzelner Worte lässt die Surenstruktur des Korans, arabische Gegenwartslyrik und Rap anklingen.
Sina de Malafosse schafft es, in ihrer Übersetzung Präzision und Sprachspiel zu gleichen Teilen zu bewahren, mehr noch, sie erlaubt einen einmaligen Einblick in die Heteroglossie eines lebendigen Französisch, sie lässt Worte in ihrer Vieldeutigkeit funkeln, ohne dass sich ihr Sinn in endlosem Spiel verlöre, ohne dass der Erzählerin je die Kontrolle entzogen würde, über all das, was sie sagen will. Wenn eine Übersetzung so meisterhaft gelingt wie hier, dann wird uns Lesenden wieder bewusst, dass zwei Sprachen nicht aneinandergrenzen, dass man nicht von einem ins andere Land übersetzt, dass das Bild der Brücke fürs Übersetzen zu sehr von zwei getrennten (Sprach)welten ausgeht. Sprachen grenzen nicht aneinander, sie sind ineinander gefaltet. Man stülpt vielleicht die eine aus der anderen und damit beide um. Sina de Malafosses Übersetzung entfaltet sich also aus einem vielfältigen Französisch, in das ein vielfältiges Arabisch eingefaltet ist.
Bei aller Zerrissenheit und allem Schmerz, die der Roman zum Thema hat, strahlt jede Zeile Erzählfreude und Neugier aus, er ist welt- und zukunftsoffen, er ist quicklebendig, er ist verletzlich und vorauseilend, er ist im besten Sinne: jung.
– Dominique Haensell und Annika Reich für die Jury