Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Screening

Hijacking Memory: Tag 2

Der Holocaust und die Neue Rechte

Fr 10.6.2022
Auditorium
10h
Eintritt frei

Auf Deutsch und Englisch, jeweils mit Simultanübersetzung in die andere Sprache

Weiteres Konferenzprogramm:

Do 9.6.2022
Sa 11.6.2022
So 12.6.2022

Foto: Peter Hapak (2021)

10–11.30h
Von der Verleugnung des Holocaust zum Bekennen. Über Rechte in KZ-Gedenkstätten und Erinnerungskultur
Volkhard Knigge

Erinnerung ist zu einem politischen und pädagogischen Zauberwort geworden. Wer Erinnerung sagt oder fordert, scheint automatisch die (selbst-)kritische, aufklärungs- und wahrheitsbezogene, menschenrechtlich fokussierte Auseinandersetzung mit Geschichte zu meinen, die nicht hätte passieren dürfen (Hannah Arendt). Diese normative Aufladung von Erinnerung blendet nicht nur die Entstehungsgeschichte des selbstkritischen Paradigmas nach 1945 aus und die unauflösliche Verschränkung von historischer Erinnerung und Macht. Sie ignoriert auch, wie unterschiedlich Erinnerung die Deutung von Vergangenheit und die Bestimmung von Zukunft prägen kann: So ist es nicht nur möglich, an Auschwitz im Sinne des „Nie wieder!“ zu gedenken. Es kann auch, mit identifikatorischem Rückbezug auf den Nationalsozialismus, als vorbildliche Tat erinnert werden. Prägte Holocaust-Leugnung die Haltung extrem Rechter in der Vergangenheit, finden sich heute vermehrt Hinweise auf Holocaust-Bekennen, flankiert von völkisch-autoritären Adaptionen kulturwissenschaftlicher Konzepte von Gedenken. Wie funktioniert dies und was lässt sich der Vorstellung von Erinnerung als Zauberwort entgegensetzen?

Desiring Victimhood: German Self-Formation and the Figure of the Jew
Hannah Tzuberi, Mitwirkung von Patricia Piberger

Wie wurde der Status des Opfers im zeitgenössischen Umgang mit transhistorischer Gerechtigkeit und Erinnerungspolitik zu einer begehrten Ressource? Die Zuerkennung des Opferstatus wurde im Deutschland nach 1989 primär mit der Figur des Juden und der Jüdin assoziiert. Später wurde er zentral für das demokratische, kollektive Selbstbild: Das „neue Deutschland“ etablierte sich, mit Juden und Jüdinnen als zentrale Opfer, durch seine (post)nationale Institutionalisierung der Holocaust-Erinnerung als vollständig souveränes und stabiles Mitglied im Bund der zivilisierten Nationen. Welche politischen und epistemologischen Prämissen und Machtverhältnisse schafft ein Gerechtigkeitsverständnis, das die Anerkennung einer Opferrolle voraussetzt? Wenn diese Opferfigur zentral ist, wie wirken sich die Prozesse postgenozidaler Nationenbildung auf das ständige Definieren und Problematisieren von Subjekten und Lebensformen aus, die sich gegen die Opferrolle stellen?

Vorträge mit anschließender Diskussion und Q&A, moderiert von Stefanie Schüler-Springorum

11.30–13h
Der Holocaust und die deutschen Leitmedien nach 1945
Lutz Hachmeister

Bundesdeutsche Leitmedien haben sich selbst gern als Hüter*innen von Demokratie und Grundgesetz dargestellt – beaufsichtigt zunächst durch alliierte Presseoffizier*innen. Tabuisiert wurde dagegen ein antisemitischer Subtext in vielen Artikeln der Nachkriegszeit, der sich etwa gegen jüdische „displaced persons“ richtete. Lutz Hachmeister gibt dafür Beispiele aus Spiegel, FAZ und Süddeutscher Zeitung und beleuchtet die besondere Rolle des Springer-Verlags. Zudem wird die Rolle von NS-Seilschaften in der westdeutschen Presse nach 1945 thematisiert.

Wie die AfD über Holocaust, Jüdinnen und Juden und Israel spricht – und schweigt
Joseph Croitoru

Der Diskurs der AfD hat sich zunehmend demjenigen der rechtsextremen NPD angenähert. In öffentlichen Äußerungen zu Holocaust, Israel, Jüdinnen und Juden grenzt sie sich von der NPD zwar ab, laut AfD-Aussteiger*innen werden intern aber auch ganz andere Töne angeschlagen. Öffentlich ist die AfD bei diesen Themen um eine gewisse Nähe zum allgemeinen Konsens bemüht. Der Holocaust wird nicht geleugnet, jedoch für unbedeutend erklärt. Antisemitismus wird verurteilt und Judenfreundlichkeit demonstriert, aber in eigenen Verschwörungstheorien werden einflussreiche Jüdinnen und Juden in kodierter Form als Feind*innen markiert. Der Ruf nach bedingungsloser Solidarität mit Israel dient der AfD auch zur Zementierung eines islamfeindlichen Weltbildes.

Vorträge mit anschließender Diskussion und Q&A, moderiert von Stefanie Schüler-Springorum

14.30h
Anti-Zionism Can Be Anti-Semitic. Zionism Too
Peter Beinart und Daniel Cohn-Bendit im Gespräch

Es gibt keine zwangsläufige Verbindung zwischen Antizionismus und Antisemitismus, weder theoretisch noch empirisch. Tatsächlich legen Belege nahe, dass in den USA Zionist*innen eher antisemitische Ansichten vertreten als Antizionist*innen, sofern man einer traditionellen Auffassung von Antisemitismus folgt. Das ist wenig überraschend, denn wenn man Juden und Jüdinnen nicht in seinem Land haben will, kann es helfen, wenn sie ein separates Land haben. Und wer findet, eine vorherrschende Ethnie, Religion oder rassifizierte Gruppe solle gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen gesetzlich privilegiert sein, findet Juden und Jüdinnen im Land problematisch, da sie als Minderheit oft gegen solche gesetzlichen Diskriminierungen protestieren. Doch Israel mögen diese Menschen bewundern, weil es ein Modell für gesetzliche Verankerungen solcher Hierarchien darstellt. Das erklärt, weshalb es für viele rechtsextreme Führungspersonen nur konsequent erscheint, im eigenen Land den Antisemitismus zu befeuern und gleichzeitig Israel zu verherrlichen.

15.30–16.45h
American Israels: Christian Zionism in Comparative-Historical Perspective
Philip S. Gorski

Die US-amerikanische Identität war immer mit Visionen des biblischen Israels verknüpft. Heute gehört dazu auch die Unterstützung für den Staat Israel. Für viele, etwa konservative weiße Protestant*innen, sind daran auch die Erwartungen und Hoffnungen eines „Christlichen Zionismus“ gekoppelt. Das betrifft die Rolle Israels sowohl für die „biblischen Endzeiten“ als auch den weltlichen „Segen“ und Reichtum im gegenwärtigen „Diesseits“. Heute erfährt die christlich-zionistische Bewegung zunehmend Unterstützung von Schwarzen und lateinamerikanischen Evangelikalen und Pfingstkirchler*innen, und findet auch auf auf anderen Teilen der Welt Anhänger*innen.

Hijacking Holocaust Memory as a Dehumanizing Practice
Lewis R. Gordon

Die politische Rechte tendiert dazu, die Vergangenheit selektiv zu betrachten als eine Ära von Ordnung und Sicherheit, was der Wahrheit nicht entspricht. Orte der Verbrechen werden als vermeintliche Belege für „Schutz“ dargestellt. Die vorsätzliche Mobilisierung von Unwahrheiten eliminiert jegliche Differenzierung und Unterscheidung. Dadurch verschieben sich die Facetten, Details und unangenehmen Wahrheiten der Holocaust-Erinnerung entweder in Richtung einer extremen Einzigartigkeit (die absolut setzt) oder einer übertriebenen Metonymie und Metapher (die trivialisieren). Beides ist entmenschlichend. Das Verständnis von Unschuld, das dadurch in liberalen, neoliberalen und neokonservativen Modellen von politischer Zugehörigkeit entsteht, basiert auf dem Gegensatz von Täter*innen und Opfern. Es lässt kaum Raum dafür, weder noch zu sein, und sieht die Möglichkeit für Unschuld nur bei jenen, die zu Schaden gekommen sind.

Vorträge mit anschließender Q&A, moderiert von Susan Neiman

17.15–18.30h
James Baldwin and the Politics of Holocaust Exceptionalism
Ben Ratskoff

Die jüngsten Debatten über heutigen Rassismus und nationale Erinnerungskulturen wurden zum Teil ausgelöst durch die globalen Bewegungen gegen das anti-Schwarze Vorgehen der Polizei. Sie stellten die historiografische Annahme in Frage, der Holocaust sei grundlegend anders als andere Formen rassifizierter Gewalt. Ebenso hinterfragten sie die Ritualisierung der Holocaust-Erinnerung. James Baldwins lange und ambivalente Auseinandersetzung mit der Rolle des Holocaust in der antirassistischen Politik der Nachkriegszeit und vor allem im Kampf gegen anti-Schwarzen Rassismus in den Vereinigten Staaten zeigt, dass dominante und institutionalisierte Formen von Holocaust-Geschichtsschreibung und -Erinnerung antirassistischen Aktivismus neutralisieren können, und dazu beitragen, den Status quo zu erhalten.

Vortrag

Baldwin, BLM, and “Black Antisemitism”

Der Mord an George Floyd im Mai 2020 löste mit den darauffolgenden Unruhen in den USA die größte antirassistische Bewegung seit einer Generation aus. Die polizeikritische Haltung dieser Bewegung, ihre ausgesprochene Solidarität mit palästinensischen Bewegungen und die allgemein steigende antijüdische Gewalt im letzten halben Jahrzehnt brachte ein neues Interesse an der Geschichte Schwarz-jüdischer antirassistischer Solidarität und den damit einhergehenden Spannungen mit sich. Diese komplexe Geschichte wird häufig auf eine Fantasie liberalen Triumpfs reduziert oder auf ein Trugbild des sogenannten „Schwarzen Antisemitismus“. In einem intellektuellen Milieu, das antirassistischen Bewegungen und postkolonialen Studien regelmäßig die Trivialisierung des Antisemitismus vorwirft oder Schlimmeres, kann James Baldwins weitsichtiger Essay über Antisemitismus und Rassismus von 1967 eine Quelle darstellen, um dem komplexen Verhältnis zwischen anti-Schwarzer Enteignung und Antisemitismus, anti-Schwarzsein, Weißsein und Christentum nachzuspüren. Das Schüren von Ängsten zwischen jüdischen und Schwarzen Minderheiten ist seit der Bürgerrechtsbewegung ein fester Bestandteil der amerikanischen Politik. Inzwischen wird es als Taktik auch zunehmend im deutschen Diskurs eingesetzt.

Gespräch mit Ben Ratskoff, Hannah Black, René Aguigah, moderiert von Emily Dische-Becker

18.45h
Boycott
R: Julia Bacha, Produzent*innen: Suhad Babaa, Daniel J. Chalfen, USA 2021, 70 min, englische OV mit englischen UT

Als ein Verleger aus Arkansas, ein Anwalt aus Arizona und eine Logopädin aus Texas zwischen ihren Jobs und ihren politischen Überzeugungen wählen sollen, gehen sie gerichtlich dagegen vor. Die Rechtsstreitigkeiten legen einen Angriff auf die Meinungsfreiheit offen, der sich quer durch 33 US-amerikanische Staaten zieht. Boycott geht einer Gesetzgebung nach, die Einzelpersonen und Unternehmen bestraft, die Israel wegen seiner Menschenrechtslage boykottieren. Boycott ist ein juristischer Thriller rund um „zufällige Kläger*innen“ und bietet neue Perspektiven auf die weitreichenden Folgen der Anti-Boykott-Gesetzgebung. Eine inspirierende Geschichte über gewöhnliche Amerikaner*innen, die in politisch unruhigen Zeiten für das Recht auf Meinungsfreiheit aufstehen.

Filmscreening, anschließend Diskussion mit Yousef Munayyer, Peter Beinart, Lothar Zechlin, moderiert von Rachel Shabi

Hijacking Memory

Hijacking Memory: Tag 1

Der Holocaust und die Neue Rechte

Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Screenings

9.6.2022

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Hijacking Memory: Tag 3

Der Holocaust und die Neue Rechte

Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Konzert

11.6.2022

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Hijacking Memory: Tag 4

Der Holocaust und die Neue Rechte

Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Performance

12.6.2022