Lecture Performance, Talk, Konzert
Der Angriff der Zeit auf das übrige Leben: Experiment
Mit Hans-Jörg Rheinberger, Sandeep Bhagwati, Evelina Domnitch & Dmitry Gelfand. Musiker: Felix Del Tredici, Navid Navab, Julian Stein, VALEKRIY
Das Ordnungssystem Zeit durchdringt alle Lebensbereiche. Im „global village“ der technologischen Zeit kann jeder zu jedem Zeitpunkt von jedem erdenklichen Ort Informationen erhalten. Der drahtlosen Kommunikation sind keine Grenzen gesetzt. Als Grundlage der Finanzmärkte treibt sie die permanente Beschleunigung der Welt voran. Die Zukunft wird bereits von der Gegenwart aufgebraucht und mit riesigen Mengen von Daten, Müll und Schulden zugebaut. Unter den Bedingungen von Echtzeitkommunikation und globaler Mobilität gehen zwei Zeitressourcen verloren: Die Sinn und Identität stiftende Vergangenheit, und eine Zukunft, die utopische Gegenentwürfe zum Jetzt erlaubt.
Im Rahmen des Auftakts von „100 Jahre Gegenwart“ untersuchen vier Veranstaltungen den Zeitraum von hundert Jahren als historischen Imaginationsraum unterschiedlicher Ausdehnungen und Verknüpfungen von Zeit: Was prägt die gegenwärtig vorherrschende Auffassung von Zeit im beschleunigten Kapitalismus? Wie beeinflusst sie unsere Wahrnehmung und Deutung der Welt? Wie wird Zeit im Experiment und im Labor hergestellt? Wie werden historische Ereignisse, Texte und Kulturen zu erfahrbaren Räumen? Und wie könnten andere Zeitvorstellungen Handlungsspielräume eröffnen?
Wie beeinflussen künstlerische und wissenschaftliche Herangehensweisen und Versuchsanordnungen die Erfahrbarkeit von Zeit? Wie wird unsere Vorstellung von Zeit durch Darstellungen geprägt? Mit wissenschaftlichen, musikalischen und künstlerischen Mitteln wird in Gesprächen und Performances untersucht, wie Zeit in Experimenten eingefroren oder beschleunigt, in der Musiknotation fixiert, oder in der freien Improvisation wahrnehmbar gemacht werden kann. Streng komponierte Versuche im Bereich der Quantenphysik und der Musik werden als „komprovisierte“ Experimente zwischen vorgefasstem Konzept und spontaner Improvisation erfahrbar.
Biografien
Hans-Jörg Rheinberger ist Molekularbiologe und Wissenschaftshistoriker. Er studierte Philosophie, Linguistik und Biologie in Tübingen und Berlin. Er ist Honorarprofessor für Wissenschaftsgeschichte an der TU Berlin, Dr. h.c. der ETH Zürich, Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie der Leopoldina und ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Seine heutigen Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Epistemologie des Experiments und die Beziehungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften.
Sandeep Bhagwati ist mehrfach preisgekrönter Komponist, Theatermacher und Medienkünstler und hat den für ihn geschaffenen Canada Research Chair for Inter-X Art an der Concordia University Montréal inne, wo er als Direktor das von ihm gegründete matralab leitet. Er war u.a. Professor für Komposition und Multimedia an der Hochschule für Musik Karlsruhe, leitete das Hexagram-Concordia Centre for Research-Creation in Media Arts and Technologies und mehrere Festivals für Neue Musik (A•Devantgarde München, Klangriffe Karlsruhe und Rasalila am Haus der Kulturen der Welt, Berlin).
Navid Navab ist ein in Montreal lebender Komponist, Improvisator und audivisuell arbeitender Bildhauer. Seit einigen Jahren betreibt er seine experimentelle Forschung an den Instituten IRCAM (Paris), CIRMMT (Montreal), CNMAT (Berkeley), Topological Media Lab und Matralab (Montreal). Seine preisgekrönten Stücke in Gestalt gestischer Klangkompositionen, adaptiver Architekturen, ortsspezifischer oder theatraler Interventionen und kinetischer Klangskulpturen wurden unter anderem an folgenden Einrichtungen und Orten gezeigt: Canadian Center for Architecture, Festival du Nouveau Cinema (Montreal), Shanghai eArts, Roulette New York, Western Front Vancouver, McCord Museum, Musée d'art contemporain de Montréal, Temeswar (Rumänien), Contemporary Arts Museum Houston, International Digital Arts Biennial (Montreal), Festival International Montréal/Nouvelles Musiques und CURRENTS (Santa Fe, USA).
Julian Stein lebt und arbeitet als Klang- und Medienkünstler in Phoenix, Arizona. Das Spektrum seiner Werke reicht von Klanglandschaften und elektroakustischen Kompositionen bis zu Gruppenperformances und kinetischen Klanginstallationen, die auf bekannten Medienkunst-Festivals wie MUTIK (Montreal), MATA (New York), ELEKTRA (Montreal) und Electric Eclectics (Meaford, Ontario, Kanada) vorgestellt wurden. Stein ist einer der Schöpfer der Montreal Sound Map und arbeitet zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Matralab des Hexagram Institute for Research/Creation an der Concordia University, Montreal.
Felix del Tredici ist als „außergewöhnlich vielseitiger Posaunist“ für seine „ebenso irritierenden wie faszinierenden“ Auftritte (New York Times) bekannt. Er ist Mitglied des Ensemble Moto Perpetuo, des Fonema Consort sowie des New York Trombone Consort. Del Tredici hat mit dem Ensemble Transmission, dem Ensemble Signal und dem Klangforum Wien gespielt, ist wissenschaftlicher Assistent am Matralab der Condordia University in Montreal und kooperiert eng mit dem dortigen Topological Media Lab. Er lebt und arbeitet in New York.
VALEKRIY (Valerie Schepper) befasst sich als Künstler und in seiner Heilarbeit mit hörbaren wie auch unhörbaren akustischen Schwingungen. In den 1980ern gründete er das Ritualforschungs-Orchester Popolznowenie. Während einer Tournee mit seinem Orchester durch Westeuropa löste sich die Sowjetunion auf. Daraufhin emigrierte Valekriy in die Niederlande, wo er bis heute lebt. Sein phänomenologischer Zugang zur Akustik ermöglicht es Hörern, die Beschränkungen ihrer Wahrnehmung zu überwinden und tief in die wahre Natur des Klangs einzutauchen.
Evelina Domnitch (St. Petersburg, Russland) & Dmitry Gelfand (Minsk, Weißrussland) erschaffen in einer Verflechtung von Physik, Chemie und Informatik mit unheimlichen philosophischen Praktiken eine Umgebung, in die Betrachter vollkommen eintauchen können. Aktuelle Erkenntnisse, besonders über Wellenerscheinungen, werden von den Künstlern eingesetzt, um Fragen der Zeitwahrnehmung zu erkunden. Heutige Theorien des Bewusstseins stützen sich vor allem auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Viele sinnliche Prozesse spielen sich aber in Dimensionen ab, die sich durch wissenschaftliche Aufzeichnungen nicht erfassen lassen. In Domnitch und Gelfands Performances treten Zuschauer deshalb in die direkte sensorische Auseinandersetzung mit ihrer Wahrnehmung ein.