Vorträge
Der kommende Krieg
Mit Laurence A. Rickels und Michel Feher
Ist das Heute als Vorkriegszeit zu denken? Oder hat der „kommende Krieg“ längst begonnen? Womit muss europäisches Geschichtsverständnis aufräumen, um der Gegenwart ins Gesicht zu blicken? Wohin führen neue imperiale Rivalitäten und Kollektivprojektionen?
Leitmotif Siegfried
Laurence A. Rickels, Psychoanalytiker, Autor, Karlsruhe, Saas-Fee
Theodor Adorno verwandelte den nervösen Trend unter emigrierten Philosoph*innen und Psychoanalytiker*innen, die, unter Kulturschock, in der lokalen Massengesellschaft genau die Tendenzen entdeckten, die das Symptom des Nationalsozialismus gebildet hatten und von denen sie gedacht hatten, sie hätten sie hinter sich gelassen, in eine Dialektik der Umkehrung. Obgleich dies unter Exilanten aus Nazi-Deutschland eine Retraumatisierung auslöste, von dem Ort aus, wie D.W. Winnicott anmerkte, an dem der Heranwachsende die Position des Über-Ichs einnahm, hatte die Jugendkultur in Kalifornien noch eine Zukunft, die Zukunft eines Experiments. Während Nazideutschland die uralte Ökonomie des Einspannens der Jugend für die Anforderungen der militärischen Ausbildung totalisierte, besetzten die Jugendkulturen Kaliforniens, bald im Zentrum einer Nachkriegs- und Nachatombombenwelt, neue Orte für eine Techno-Massenpsychologie. Aber das kalifornische „Teen-Age“ setzte die deutsche Erfindung der Adoleszenz fort, was die Instrumentalisierung im Nationalsozialismus neutralisierte– die Vorgeschichte, die mit Goethes Werther und Wagners Siegfried assoziiert ist.
Disposing of the Discredited: A European Project
Michel Feher, Philosoph, Herausgeber, London, New York
In einer Welt, in der Finanzmärkte hegemonial sind, steht Kredit synonym für Wert. Unternehmen, aber auch Staaten und selbst Menschen können als Projekte auf der Suche nach Investoren wahrgenommen werden. Für den französischen Philosophen Michel Feher sticht in diesem globalen Kontext die Europäische Union durch zwei Eigenschaften hervor: eine rapide alternde Bevölkerung verbunden mit einem wachsenden Unwillen, ihre Grenzen für Migrant*innen zu öffnen. Dies bedeutet, dass europäische Nationen, weit davon entfernt, ihren Kredit auf die Wiederherstellung einer Art von demografischer Dynamik einzusetzen, andauernd versuchen, die Quote von Kapital und Arbeit zu erhöhen. Mit diesem Ziel vor Augen tun sie alles Nötige, um Investitionen anzulocken, aber auch, um Menschen, die über keine vorteilhaften Ressourcen verfügen, davon abzuhalten, die Grenzen zu überwinden, und die Teile ihrer Bevölkerung auszusondern, die wahrscheinlich den allgemeinen Kredit dieser Länder verringern. So kann die Entledigung der Diskreditierten als mehrdimensionales europäisches Projekt angesehen werden, voller Public-Private-Partnerships: Dazu gehört es, Migrant*innen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, das Leben für als unerwünscht befundene Populationen wie die Roma unerträglich zu machen, eine wachsende Zahl von Arbeitnehmer*innen in den Suizid zu treiben, alle Spuren eines Großteils der Arbeitslosen aus den offiziellen Statistiken zu löschen, und, in Ländern wie Portugal und Irland, mehr und mehr Staatsbürger dazu zu bringen, auszuwandern. In seinem Vortrag untersucht Feher den Fall Griechenland als nächste Stufe dieses Projekts.
Biografien
Michel Feher ist Philosoph und hat an der École Normale Supérieure in Paris sowie an der University of California in Berkeley unterrichtet. Zuletzt war er Gastprofessor am Goldsmiths, University of London. Er ist Gründer und Herausgeber des Verlags Zone Books (1986) sowie Vorsitzender und Gründungsmitglied von Cette France-là, einem 2008 in Paris entstandenen Verein zur kritischen Beobachtung der französischen Einwanderungspolitik. Feher ist Autor von Powerless by Design: The Age of the International Community (2000) und mit Cette France-là Ko-Autor der Bücher Xénophobie d’en haut: le choix d’une droite éhonté sowie Sans-papiers et préfets: la culture du résultat an portraits (2012). Gemeinsam mit Gaëlle Krikorian und Yates McKee hat er 2007 den Band Nongovernmental Politics herausgegeben.
Laurence A. Rickels ist Professor für Kunst und Theorie an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe und Inhaber des Sigmund Freud Chair of Media and Philosophy an der European Graduate School in Saas-Fee, Schweiz. Von 1981 bis 2011 war er Professor of Comparative and German Literature an der University of California, Santa Barbara. Seine wissenschaftliche Arbeit knüpft zum Teil an die Medien- und Massenkulturkritik der Frankfurter Schule an und bewegt sich im Grenzbereich zwischen Psychoanalyse, Philosophie, Komparatistik und Medientheorie. Zu den bekanntesten Werken auf seiner umfassenden Liste literarischer und wissenschaftlicher Veröffentlichungen gehören The Case of California, The Vampire Lectures und die dreibändige Nazi Psychoanalysis. Sein neuestes Buch Germany: A Science Fiction erschien im März 2015.