Kuratorisches Statement
In den letzten 12 Jahre sind Indigene Themen in ganz Kanada immer weiter in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt, die „Dekolonisierung“ (wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen) hat in vielen kulturellen, akademischen und politischen Institutionen mittlerweile einen hohen Stellenwert. Ob es sich hierbei um einen strukturellen Wandel handelt, bleibt zu klären; die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, dass symbolische Gesten den Mangel an Tatkraft überdecken sollen, wenn es um lang anstehende substanzielle Fragen geht wie die Treaty Rights – vertraglich zugesicherte Rechte –, Landansprüche und die ungleiche Verteilung von Sozialausgaben. Dennoch zeigt sich bei immer mehr Kanadier*innen ein Bewusstsein um die Geschichte(n) des Kolonialismus, die jahrzehntelang niemand sehen wollte. Im Zuge zunehmender Verbindungen unter den Indigenen Communitys der Welt, neuen Möglichkeiten, in Erscheinung zu treten, und einer steigenden Sensibilität sticht die Bedeutung der aktivistischen Filmemacherin Alanis Obomsawin für eine globale Diskussion der Dekolonisation umso deutlicher hervor. Die Ausstellung The Children Have to Hear Another Story versucht vor diesem Hintergrund ein Licht darauf zu werfen, wie Obomsawin diese Errungenschaften erzielen konnte und was das für sie im Einzelnen bedeutet hat. Die Darstellung ist chronologisch aufgebaut und setzt in den 1960er Jahren ein, als die Performerin, Aktivistin und Kommentatorin Indigener Belange das erste Mal die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog.
1932, zu der Zeit, als sie geboren wurde, wurden Indigene Kinder vom kanadischen Staat in zumeist kirchliche Residential Schools geschickt. Diese Internatsschulen hatten die ausdrückliche Aufgabe, Indigene Kulturen, Glaubensvorstellungen und Sprachen zu zerstören und durch die Kultur und christlichen Religion der europäischen Siedler*innen zu ersetzen. Wer 1932 als Indigene Person bei einer nationalen Wahl eine Stimme abgeben wollte, musste den eigenen „indianischen Status“ und alle zugehörigen Vertragsrechte sowie weitere Kollektivrechte unwiderruflich aufgeben. Es verwundert kaum, dass sich nur wenige Menschen zu diesem Schritt durchringen konnten. Wenn eine Indigene Frau einen nicht-Indigenen Mann heiratete, verlor sie automatisch ihren Status. Wer Zeremonien wie den Sonnentanz oder den Potlatch abhalten oder auch nur damit in Verbindung stehende Gegenstände herstellen wollte, verstieß gegen ein 1876 durch den Indian Act etabliertes Gesetz. In den Massenmedien waren zwar Unmengen „indianischer“ Motive zu sehen, aber kaum Indigene Menschen, die sich selbst oder ihre Kultur vertraten. Gleichzeitig fanden sich in der akademischen Welt sowie in der öffentlichen Diskussion zahlreiche Anthropologen und andere „Indianerexperten“, die im Brustton der Überzeugung über das „Indianerproblem“ sprachen und entsprechende Lösungen vorschlugen.
Seit den 1970er Jahren veröffentlicht das National Film Board of Canada Obomsawins Arbeiten als Filmemacherin. Ihr dokumentarisches Kino versteht sich als bewusster Akt des Zuhörens, gibt Indigenen Menschen die Gelegenheit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Der Wandel in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren – von den aktivistischen Bewegungen der ersten Stunde zu einem breiteren Netzwerk mit explizit politischem Programm – spiegelt sich in Obomsawins Filmen. In den 1990er Jahren verwandte sie ihre Energie als Filmemacherin darauf, die Ursachen und Wirkungen der sogenannten Oka-Krise – von vielen Indigenen Kanehsatà:ke Widerstand genannt – persönlich und aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen und in einem zweiten Schritt einer genauen Analyse zu unterziehen: handelt es sich doch um eine Krise, die sich nicht nur aus dem Erbe kolonialer Enteignung speist, sondern aus ihrer Realität bis zum heutigen Tag.
Auch wenn das aktive politische Engagement Indigener Gruppen in ganz Kanada im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht nachließ, kam es doch zu einigen wichtigen Veränderungen innerhalb der Institutionen: Haltungen änderten sich, lange geschlossene Türen begannen sich zu öffnen. Anfang der 2000er Jahre begannen viele Institutionen, darunter das wichtige nationale Fördergremium Canada Council for the Arts, sich verstärkt für eine Indigene Inklusion einzusetzen. Mit einem erweiterten Zugang zu den etablierten Kulturinstitutionen begannen die Indigenen Nationen ein breites Themenspektrum zu verfolgen, bis hin zu der Frage, inwieweit Indigene Denkweisen und Werte in den neu erschlossenen Räumen gefördert und umgesetzt werden können. All diese Aspekte hat Alanis Obomsawin über ihre gesamte Schaffenszeit hinweg thematisiert. Ihr jüngster Film, der 2021 herauskam, richtet seinen Blick auf die Truth and Reconciliation Commission of Canada, die als Bedingung für die Beilegung eines Rechtsstreits mit der Bundesregierung im Namen der Überlebenden der Residential Schools ins Leben gerufen wurde.
Über ein halbes Jahrhundert hinweg hat Alanis Obomsawin ein Modell des Indigenen Kinos geschaffen, das den Stimmen ihrer Protagonist*innen Raum gibt und die (wirtschaftlichen, umweltbezogenen, politischen, erkenntnistheoretischen bzw. ontologischen) Eckpfeiler des kapitalistischen Weltsystems, in dem wir alle leben und überleben müssen, infrage stellt.
Richard William Hill und Hila Peleg