Hans Christoph Buch: Birds of New York
Laudatio auf Teju Cole
Man fragt sich, ob es das eigentlich noch gibt: den Erstlingsroman eines bis dahin kaum bekannten Autors, der diesseits und jenseits des Atlantiks Wellen schlägt und keinerlei Konzessionen macht an die Ästhetik kommerzieller Bestsellerliteratur? Das Wort „Welterfolg“ klingt heutzutage so hausbacken wie das Rezept, mit dem Ian Fleming einst den Siegeszug seiner James-Bond-Romane erklärte: „Good living, sex and violent action“.
All das sucht man in Teju Coles Roman „Open City“ vergeblich. Stattdessen findet man – halten Sie sich fest! – Erörterungen über Velazquez, Goya und Courbet, über Gustav Mahler, Sigmund Freud, Walter Benjamin und Roland Barthes: So frisch und unverbraucht, als hätte der in Nigeria aufgewachsene, in den USA lebende und lehrende Autor die europäische Kultur soeben neu entdeckt. „Open City“ ist ein Großstadtroman über Manhattan, dessen Topographie, von der Wallstreet bis nach Harlem, der Erzähler geduldig abschreitet und mit Kamerablick registriert. Teju Cole war und ist selbst ein passionierter Fotograf, anders als sein Romanheld Julius, der Psychiatrie studiert. Aber das mit dem PEN-Hemingway Award prämierte Buch ist mehr als nur eine Hommage an New York, denn dem Autor ist etwas gelungen, was postkoloniale Kritiker und Theoretiker der Postmoderne für unmöglich hielten: die Wiedergeburt des deutschen Bildungsromans aus dem Geist der afrikanischen Diaspora.
Sein Alter Ego im Roman stattete Teju Cole mit einer deutschen Mutter aus, die es im wirklichen Leben nicht gibt. In einem Gespräch mit Mara Delius, erschienen in der Welt’, ironisierte er sich als ‚deutscher Schriftsteller, der auf Englisch schreibt’. Sein Protagonist Julius ist ein Widergänger des Wilhelm Meister wie des Grünen Heinrich: Mit unstillbarer Wissensgier und altmodisch anmutendem Bildungshunger stürzt er sich auf das geistige Erbe des Abendlands – man muss es so pathetisch ausdrücken – ohne Dante und Shakespeare dafür zu verachten, dass sie tote weiße Männer sind, wie dies an amerikanischen Universitäten gelehrt wurde und wird – je nach Department mit Akzent auf „tot“, „weiß“ oder „Mann“. Vermutlich hat Teju Cole die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss nicht gelesen, aber die Erinnerung an dieses Textlabyrinth drängt sich bei der Lektüre auf, ähnlich wie der Vergleich mit W. G. Sebald, dem das in Brüssel spielende Kapitel des Romans seine Reverenz erweist.
Sex und Gewalt werden nicht etwa ausgespart, aber auch nicht voyeuristisch aufbereitet und ausgebreitet wie in marktkonformen Bestsellern mit ihrer Mischung aus Sex and Crime. Teju Cole ist alles andere als prüde und gibt sich nirgendwo als Moralapostel aus. Doch seine ungeschönte Darstellung eher deprimierender Sexualerfahrungen wirkt geradezu keusch im Vergleich zu einem Michel Houellebecq, um nur diesen Namen zu nennen. Andererseits ist der Roman fast schon überladen mit politischen und philosophischen Reflexionen, die den Ich-Erzähler ebenso charakterisieren wie die globalisierte Welt zu Beginn des neuen Milleniums. Dabei vermeidet es der Autor, ideologische Klischees zu bedienen oder, was noch unverzeihlicher wäre, sich selbst oder dem Protagonisten den großen Durchblick zu bescheinigen: Seine Kritik an den Verbrechen des Kolonialismus, allen voran am Sklavenhandel, dient nicht der Heiligsprechung Afrikas, das – wie er aus leidgeprüfter Erfahrung weiß - nicht im Stande der Unschuld ist; und an keiner Stelle des Romans wird Europa gegen Amerika ausgespielt oder umgekehrt.
Teju Cole widersteht daher der Versuchung, im Namen einer sozialen Klasse oder ethnischen Gruppe zu argumentieren, und spricht nur für sich selbst: in in New York lebender Nigerianer – das Modewort „Afropolitan“ lehnt er ab – der das Schicksal der Marginalisierten aus eigener Anschauung kennt, ohne deshalb deren Irrtümer und Illusionen gutzuheißen. Die hinter der Fassade politischer Korrektheit lauernde, subtile Diskriminierung von Arabern und Schwarzen lehnt er ebenso vehement ab wie den unter seinen Brüdern und Freunden verbreiteten Antizionismus mit gleitendem Übergang zum Antisemitismus. Gleichzeitig ist er fasziniert von fernöstlicher Kultur, deren mit Pragmatismus gekoppelte Weisheit ihm in Gestalt eines japanischen Professors entgegentritt, der im Zweiten Weltkrieg als „enemy alien“ interniert war und nun in seinem New Yorker Apartment den Tod erwartet.
„Als ich am folgenden Tag zu einer Lyriklesung im 92Y Community Center ging, nahm ich wieder einen Umweg durch den Park, wo die Blätter in strahlenden Farben ihr Leben ließen und inmitten der Laubmassen die Weißkehlammern ihre Lockrufe ausstießen, um dann abwartend zu lauschen. Es hatte zuvor geregnet, und die zerklüfteten Wolken schoben sich gegeneinander, durchbrochen von Sonnenstrahlen. Die Zweige der Ahorne und Ulmen regten sich nicht. Der schwebende Bienenschwarm über einer Buchsbaumhecke erinnerte mich an gewisse Yoruba-Beinamen für Olódùmarè, den höchsten Gott: Der-wie-eine-Bienenwolke-im-Himmel-sitzt, Der-Blut-in-Kinder-verwandelt.“
Teju Coles Buch könnte dabei auch „Birds of New York“ im Untertitel heißen, denn es schildert nicht nur die menschliche Fauna Manhattans, sondern auch dessen Vogelwelt, von den Tauben und Krähen in Harlem über die Bussarde im Central Park bis zu den 175 Zaunkönigen, die im Oktober 1883 mit der neu errichteten Freiheitsstatue kollidierten: Ein verstörendes Bild, wie der Anfang von Kafkas Amerika-Roman, wo die Allegorie der Freiheit statt der Fackel ein Schwert in den Himmel reckt.
Was mich von der ersten Seite an für diesen Roman einnahm, ist nicht nur seine detailgenaue, rhythmisierte Prosa, deren Sog den Leser mitreißt, sondern eine andere, schwer zu benennende Qualität. Früher sagte man Ehrlichkeit dazu, aber Begriffe wie existenzieller Ernst oder Wahrhaftigkeit sind angemessener, denn der Autor dieses Erstlingsbuchs trumpft nicht mit seinem Können auf, im Gegenteil: Er beherrscht die selten gewordene Kunst, sich selbst und die im Roman geschilderte Welt, einschließlich seines Protagonisten, in Frage zu stellen und damit für Leserinnen und Leser kritisierbar zu machen. „Jeder Mensch muss sich unter bestimmten Bedingungen als Sollwert der Normalität setzen“, schreibt Teju Cole und fügt hinzu: „Vielleicht verstehen wir das unter geistiger Gesundheit: dass wir uns selbst, so verschroben wir uns auch finden mögen, niemals als die Bösewichte unserer eigenen Geschichte wahrnehmen.“
Zum Ende dieser Laudatio noch der Hinweis auf ein Detail, das tief blicken lässt – wörtlich und im übertragenen Sinn. Keinem der zahlreichen Rezensenten des Romans ist aufgefallen, dass der Schuhputzer, dem Julius begegnet, kein heute lebender Haitianer ist, sondern ein Widergänger aus der Vergangenheit, sozusagen ein Geist: Pierre Toussaint (1766 – 1853) war ein freigelassener Sklave aus der französischen Kolonie Saint Domingue, der sich in New York niederließ und den Namen von Haitis Nationalheld Toussaint Louverture annahm. In Zusammenarbeit mit der Kirche gründete er ein Waisenhaus und schuf ein Netzwerk für befreite Sklaven, denen er Papiere, Arbeit und ärztliche Hilfe besorgte. Toussaint war ein gläubiger Katholik; er wurde in der St. Patrick’s Cathedral auf der Fifth Avenue beigesetzt und von Johannes Paul II. selig gesprochen. Aber das nur in Klammern.
Denn das positive Echo der Kritik zeigt, dass und wie es der Übersetzerin Christine Richter-Nilsson gelang, die sprachliche Gestalt des Texts wiederzugeben und, da jede Übersetzung immer auch eine Neuschöpfung ist, dessen vibrierende Musikalität und Intellektualität im Deutschen nachzuvollziehen. Sie hat „Open City“ zugleich in ein unprätentiöses und gerade darum bestechendes Deutsch übertragen. Stilsicher nutzt sie die Register der Sprache, um Coles kunstvolle Verflechtungen von essayistischer Reflexion und aufgeladener Bildgenauigkeit zu rekonstruieren. Das verleiht ihrer Übersetzung Eleganz und Prägnanz gleichermaßen – ihre spezifische, nämlich zurückhaltende Prägnanz. Wir wissen, dass dieser Roman nicht in Deutsch geschrieben wurde, gleichwohl könnte man es beim Lesen annehmen und glauben, man habe es mit einem zurückhaltenden Autor zu tun, der seine Kunst versteht, aber niemals aufdringlich zur Schau stellt – und diese Vorstellungsmöglichkeit verdanken Christine Richter-Nilssons Übersetzung. Und mit diesem Kompliment an die Übersetzung – nämlich das Original nicht verraten zu haben – möchte ich schließen.
Allen Beteiligten, dem Autor, der Übersetzerin und den Mitarbeitern des Verlags, gebührt Anerkennung und Dank.
Berlin, Haus der Kulturen der Welt,
12. Juni 2013