Aris Fioretos: Festrede

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Lieber Roman,

schwer zu erkennen, wer du heute bist, unmöglich zu sagen, was du morgen sein könntest, aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass du, seit die Zeitungen begonnen haben, dich in ihren Feuilletons abzudrucken, in den meisten denkbaren Formen aufgetreten bist, von Familiensagas voller Säbelrasseln und Samowaren bis zu Eigenbrötlern, die sich an gottverlassenen Ufern Steine in den Mund stopfen, was mich dazu verleitet, da ich heute Abend endlich einmal feierlich über dich reden darf, von deiner Zukunft mit Hilfe von sieben Topoi, wie die Rhetorik sie einst nannte, zu träumen, also sieben „Orten“ oder „Stationen“ eines Gedankengangs, denn so viele Kontinente gibt es ja auf Erden, und da wir uns gerade in einem Haus der Kulturen der Welt befinden, sollten wenigstens ebenso viele Ecken ihres Domizils erkundet werden, weshalb ich damit anfangen möchte, was zu jedem Zuhause gehört, nämlich mit der

Frist
Denn von allem, was du bietest, scheint mir der Aufenthalt am selbstverständlichsten, er sorgt dafür, dass man als Leser in dir allein sein kann, ohne sich einsam fühlen zu müssen, abgeschieden, aber verbunden mit anderen Schicksalen, und ich gestehe, dieses offene Asyl gehört für mich zum Besten an dir, eine dehnbare Dimension, im Prinzip für jeden zugänglich, in der die Vergangenheit niemals vorbei ist, die Zukunft selten sicher erscheint und die Gegenwart keinesfalls eine einzige ist, so dass die drei Zeitformen gemeinsam ein viertes Tempus bilden, das dein eigenes sein könnte, und sicher liegt es nahe, dies als eine Gnadenfrist jener Art zu betrachten, wie sie einst Scheherazade erwirkte, als es ihr Nacht für Nacht gelang, das Unvermeidliche aufzuschieben, bis der König kapitulierte und das Todesurteil in eine Hochzeit umwandelte, aber ich bin mir nicht sicher, dass wir uns heute noch auf glückliche Enden verlassen können, außerdem ist eine Frist ja nicht nur der Zeitraum, in dem ein Mensch aufatmet, sondern kann auch ein weniger befreiender Limbus sein – wie etwa der sogenannte „Gewahrsam“, eine Anlage zwischen Cateringfirmen und Logistikunternehmen am Flughafen Stockholms, wo Flüchtlinge darauf warten, „nach Hause fahren zu dürfen“, wie die Behörden es ausdrücken, eine beschönigende Umschreibung, denn der Ausgang steht ja fest, sobald sie dort die Schwelle übertreten haben, weshalb man eher sagen muss, dass sie auf die Deportation, oder „Rückführung“ warten, wie der offizielle Begriff lautet, was das Heimweh, das als Grundmotiv in der epischen Tradition gilt, aus der du entstanden bist, vielmehr als Strafurteil erscheinen lässt, denn wenn es etwas gäbe, wohin sich zurückkehren ließe, zum Beispiel ein Heimatland, hieße dies ja, dass es die Minimalanforderung an ein Zuhause erfüllen würde, folglich in der Lage wäre, sich um seine Bürger zu kümmern.

Kontrast
Aber so ist es nicht und diese Verdrehung der Sprache ist eine Perversion, von der sich kein Idiom freizumachen vermag, nicht ganz, weil es in der Natur der Sprache liegt, nicht nur darzustellen, sondern auch zu entstellen, worüber sie spricht, so dass die Verdrehung als die Kehrseite jener Veränderlichkeit betrachtet werden könnte, in der ich deinen vornehmsten Vorzug sehe, denn nur durch Widersprüche bekommt die Wirklichkeit Kontrast, womit ich schon beim zweiten Punkt meines Streifzugs durch die Kontinente der Literatur angelangt wäre, und deshalb meine ich, dass du nicht als ein Medium behandelt werden solltest, mit dem Worte von schmutzigem Gebrauch reingewaschen werden, selbst wenn dies eine noch so noble Aufgabe wäre, sondern vielmehr als die Kontrastflüssigkeit, mit der − die politischen oder anderen − Bedingungen für die Verdrehung hervortreten, zum Beispiel die Gründe dafür, dass das Personal im Gewahrsam von „würdevollen“ Rückführungen spricht, womit der Augenblick gemeint ist, in dem ein Flüchtling schließlich „fühlt, dass es okay ist, in sein Heimatland zurückzufahren“, wie es auch heißt, und man die Deportation endlich als ein gemeinsames Ziel betrachten kann, während es in Wahrheit darum geht, eine rechtliche und rhetorische Situation zu konstruieren, die nur einen Ausgang haben kann, und es sich also nicht um einen Gewahrsam, sondern eher um eine Falle handelt, wenn auch juristisch unbestechlich, in der jede Handlung, die die Bedingungen nicht bestätigt, früher oder später kriminalisiert wird, was übrigens der Grund dafür ist, dass die Behörden Flüchtlingen, die ihren Pass verloren haben, so selten glauben, da eine Person ohne Ausweis nicht ausgewiesen werden kann, zumindest nicht in ihr so genanntes Heimatland, sondern zu dem ersten EU-Staat zurückgeschickt wird, in den sie ihren Fuß setzte, was wiederum heißt, dass diese national nicht länger identifizierbaren Menschen nun schlicht als „die“ bezeichnet werden, und damit wäre ich bei meiner nächsten Station, nämlich bei der Frage der

Perspektive
An einem Ort wie dem Gewahrsam bildet dieses „die“ den kleinsten gemeinsamen Nenner für die somalischen Mütter und afghanischen Jugendlichen und irakischen Väter und syrischen Kinder und kurdischen Großeltern, die alle darauf warten, zu „fühlen, dass es okay ist, in sein Heimatland zurückzufahren“, und so gezwungen werden, sich in der boshaftesten Art von Nostalgie zu üben, und ich frage mich, ob diese „die“, die es übrigens uns anderen ermöglichen, uns „wir“ zu nennen, nicht Teil jenes „stillen Gepäcks“ ist, das die Literatur Herta Müller zufolge zum Sprechen bringen soll, denn was bedeutet „die“ denn anderes als eine Nicht-Zugehörigkeit, und demnach eine Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden, verständlich Gesagtem und barbarischem Gebrabbel oder wie sonst das Verhältnis im Laufe der Jahrhunderte qualvoller Distinktionen formuliert wurde, die wir nur zu gut kennen, und folglich muss ein Roman, der das stille Gepäck ernsthaft zum Sprechen bringen möchte, die Verantwortung für den Inhalt übernehmen, wenn auch nur in geringem Maße, was wiederum heißt, „die“ als „wir“ zu betrachten, und sei es auch nur in ebensolchem geringen Maße, und damit scheint mir der Perspektivismus nach wie vor eines deiner besten Mittel, um widersprüchliche Zusammenhänge darzustellen.

Legion
Perspektivismus heißt aber auch, dem Anecken eine Form zu geben, und sollte diese Unbequemheit einen Namen tragen, dann wohl nur Legion, womit ich beim vierten wäre, woran ich denke, wenn ich an dich denke, nämlich bei jener Person, die in einer Szene in der Bibel auftaucht, in der Jesus, nachdem er an einem fremden Ufer an Land gegangen ist, einem Mann begegnet, „der seine Wohnung in den Grüften hat“, wo er besessen von einem „unreinen Geist“ sich selbst mit Steinen schlägt und sich „nicht mit einer Kette“ fesseln lässt, kurzum: Wir stehen einem Prachtexemplar eines schwer zu integrierenden Menschen gegenüber, der nun behauptet: „Legion ist mein Name, denn wir sind viele“, und ich frage mich, ob dies nicht auch dein Name sein könnte, jedenfalls hege ich den Verdacht, dass die Aussage eine Miniversion deines genetischen Codes enthält, denn in dieser Äußerung geschieht etwas nach der Behauptung, aber vor der Schlussfolgerung, es scheint eine Verzerrung im Herzen des Satzes zu geben, wodurch die Person, die anfangs spricht, nicht die ist, die den Satz beendet, und ist es nicht genau das, was ein Roman tut, bei der Lektüre verwandelt er ja jedes einzelne „ich“ in etwas von einem „wir“, und folglich gibt es in dieser Verwandlung sowohl eine auflösende, als auch eine erschaffende Kraft, und wenn die Literatur nicht bloß der Zerstreuung dienen, sondern eine eigenständige Erkenntnisform sein soll, kann sie sich doch nicht einfach damit begnügen, mehr oder weniger gut verpackte Bearbeitungen dringlicher sogenannter „Themen“ anzubieten, sondern muss sich von Erwartungen daran freimachen, was sie ist oder sein sollte, und stattdessen damit überraschen, was sie werden kann – nichts anderes bedeutet jedenfalls das nächste, woran ich denke, nämlich

Das Papierlose
Was eine andere Bezeichnung wäre für „das stille Gepäck“, das zwischen Buchdeckeln ausgepackt wird, zumindest wenn man mit Literatur einen Weg meint, etwas weiter zu gehen, als die Sprache eigentlich erlaubt, und somit eine Erkenntnisform, die sich behauptet, wo Erinnerung und Vernunft nicht genügen, und natürlich ist mir bewusst, dass mit Menschen „ohne Papiere“, also papierlosen Menschen, Personen gemeint sind, die ihre Identität nicht mit den dazu erforderlichen Dokumenten nachweisen können oder wollen, aber dieser Zustand ohne Papiere rührt auch an etwas Wichtiges bei dir, du Roman, der du entstanden bist, als die Druckerpresse begann, Buchstaben auf Zellulose zu vervielfältigen, denn liegt es nicht in deiner Natur zu versuchen, sich das noch Unbeschriebene einzuverleiben, das in gewissem Sinne nicht legitimierte, vielleicht auch Illegitime, was natürlich nicht heißt, dass diese menschlichen Erfahrungen ungelebt wären, sondern nur, dass sie bislang unformuliert geblieben sind, wenigstens möchte ich daran glauben, dieser Wunsch, dem Papierlosen Worte zu verleihen, gehört zu deiner Daseinsweise, ja dass du, wenn du dich ernst nimmst, mit allen Mitteln auszudrücken anstrebst, was es noch nicht auf Papier gab – streng genommen kenne ich wenigstens keinen besseren Grund für deine Existenz.

Teilnahme
Ich gehöre jedenfalls nicht zu denen, die glauben, du seist unsterblich, also eine Ausdrucksform, die für alle Zeit gegeben, bekannt und nicht mehr fortzudenken ist, denn immerhin sind lediglich ein paar hundert Jahre vergangen, seit du deine heutige Gestalt bekamst, und was sagt uns, dass du in dieser Form weiterleben musst, im Gegenteil, ich glaube an deine Fähigkeit, neue Gestalten anzunehmen, vielleicht sorgt gerade das Vertrauen auf sie für dein Überleben, als könne der Glaube an die Vergänglichkeit dich tatsächlich retten, denn ich nehme an, nur wenn du von ihr ausgehst, hast du dem Leser mehr zu bieten als eine Erzählung und wirst zu einem narrativen Bewusstsein, geräumig genug, um eine heimliche Menschlichkeit zu enthalten – Hand aufs Herz ist es doch das, worum sich alles dreht, nämlich Teilnahme, womit ich übrigens bei meiner sechsten Station angelangt wäre, dieser Teilnahme, von der Brecht einst sprach, als er sich den Menschen nicht als „Individuum“, sondern „Dividuum“ vorstellte, mit anderen Worten nicht als existentielles, sondern soziales Wesen, denn zwar weiß selbst das Personal des Gewahrsams, dass die Rechte eines Menschen universal sind, und er folglich als unantastbar und unteilbar, also als Individuum, behandelt werden muss, aber als soziales Wesen besteht er aus Bindungen, ist er ebenso sehr Atom wie Molekül, und so stelle ich mir ein narratives Bewusstsein vor, als etwas, das zugleich größer und kleiner ist als das einzelne Ego, will sagen eine aus Bindungen bestehende Schöpfung, und ich frage mich, ob dies nicht heißen muss, dass der Roman ein Text sein könnte, bei dem sich das Zentrum überall befindet, zumindest gestehe ich gern, dies wäre mein heimlicher Traum, dieser Text, in dem sich das Zentrum überall befindet, denn nur so erscheint es doch möglich, der Welt in ihrem grenzlosen Reichtum gerecht zu werden, und auch die Leichtigkeit und Freude in einem Dasein einzufangen, das gleichzeitig eine Hölle ist, Hoffnung ist immerhin etwas anderes als ein glückliches Ende, trotz allem geht es ja in der Literatur nicht darum, Personen zum Leben zu erwecken, die man sich ausgedacht hat, sondern darum, Leben in Bewegung zu setzen, doch nun fragt sich der Ordnungsliebende sicher, ob es denn solche Romane gebe, oder ob sie zukünftig geschrieben werden, und was weiß ich, vielleicht ist das nur ein papierloser Wunschtraum, aber die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, dürfte wohl immer noch sein, sie zu erfinden, und ich habe den Verdacht, dass die sechs Bücher, die wir heute Abend feiern, eben Teile einer solchen Zukunft sein könnten, wenigstens gestehe ich, dass ich als Leser seit langem einer Prosa überdrüssig bin, die beweist, was wir nicht kennen, aber gleichwohl schon wissen, all dieser wohlerzogenen Stories, lobenswerten Schulaufsätzen ähnelnd, in denen Themen und Personen ausgetauscht werden, die Erzählkonventionen jedoch unverändert bleiben, als wäre in der Epik in den letzten hundert Jahren nichts geschehen, und ich frage mich wirklich, ob es so sein muss, ich begreife nicht, warum ein Roman nicht ebenso gut ein Katalog über Atemzüge sein kann, oder sieben Fälle von Schmerz, verteilt auf achteinhalb Wesen, denn die Pointe muss doch sein, dass die Literatur keine Pyjamaparty ist, bei der unsere gierige Sehnsucht nach bequemer Zusammengehörigkeit das Gespür für Komplikation ersetzt, sondern eine Dimension bietet, in der dem Leser ein narratives Bewusstsein begegnet, das ihn sogar eine Gänsehaut bekommen lässt – und wie wäre es, um endlich zur letzten Station auf diesem gewundenen Gedankengang zu kommen, wenn man dies als die deutlichste Art betrachten würde, in der Evidenz erzeugt wird, diese

Gänsehaut
Denn wenn sie uns wirklich angeht, vermittelt sie ein Gefühl von Unabweisbarkeit, sie enthält etwas, wogegen wir uns als Leser nicht wehren können, eine Unruhe oder Aufgeregtheit, vielleicht Bestürzung, womöglich Begeisterung, jedenfalls entdecken wir, dass wir auf verborgene Art zutiefst vertraut mit ihr sind, was die Gänsehaut nicht gerade abschwächt, sondern uns verstehen lässt, dass uns keine andere Wahl bleibt, wir müssen sie als Teil unserer Daseinsweise betrachten, als wisse die Literatur mehr über uns als wir selbst, und ich glaube, wenn die Prosakunst in Zukunft relevant sein möchte, muss sie solche Evidenz erschaffen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln, sie muss Gänsehautproduzentin werden, denn ist die prickelnde Haut nicht die Entsprechung unseres Körpers zu einem Text, in dem sich das Zentrum überall befindet, diese unzähligen winzigen Erhebungen, die jede für sich einen eigenständigen Mittelpunkt bilden, was übrigens der Grund dafür ist, dass es bei der Produktion von Sinn in der Literatur niemals um Wachstum, sondern um Überschuss geht, ich stelle mir zumindest vor, dass der Roman nicht weniger als das verspricht, diesen haarsträubenden Überschuss von Bedeutung, und deshalb erlaube ich mir eine letzte, überzählige Station auf meiner Reise in sieben, nein acht Ecken um die Welt anzulaufen, nämlich

Liquidität
Die Kontinente sind ja nicht nur voneinander getrennt, sondern auch miteinander verbunden, in beiden Fällen von Wasser, und ich stelle mir die erzählende Prosa wie ein solches Medium des Teilens vor, und also auch den Differenzerfahrungen gewidmet, grenzenlos, und dennoch sammel- und kanalisierbar, denn wenn ihre Vergangenheit uns etwas zeigt, dann doch, dass sie die unterschiedlichsten Gestalten annehmen kann, ohne verloren zu gehen, oder anders gesagt, sie enthält Vielfältiges, wie Wasser in Wasser, und deshalb träume ich von ihr, die viele ist, als sei ihr Zentrum überall, und als gebe es somit auch etwas, was dafür sorgt, dass sie sich trotz ihrer wechselnden Züge gleicht, und ich frage mich, ob diese haltbare Veränderlichkeit, die man eben Liquidität nennen könnte, nicht als ihr größter Vorzug betrachtet werden muss, vielleicht ist sie sogar der einzige Grund, weiter an die Prosakunst als selbständige Erkenntnisform zu glauben, also anzunehmen, dass sie auch im Zeitalter medialen Überflusses eine Zukunft hat, ich stelle mir wenigstens vor, dass du nicht weniger als das versprichst, du Roman, über den ich die ganze Zeit spreche, als könnte man von dir als von einer Person sprechen, du, der du ein seelischer Aggregatzustand bist, nenne ihn Legion oder narratives Bewusstsein, was dich zugleich bedroht und bedrohlich sein lässt, und deshalb unendlich begehrenswert, was letztlich das einzige ist, was ich die ganze Zeit denke, wenn ich an dich denke.

Berlin, Haus der Kulturen der Welt
12. Juni 2013