Bernd Scherer: Eröffnungsrede
anlässlich des Internationalen Literaturpreises 2013
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte Sie ganz herzlich im Namen des Haus der Kulturen der Welt zur diesjährigen Verleihung des Internationalen Literaturpreises und zur langen Nacht der Shortlist begrüßen.
Insbesondere geht mein Willkommensgruß an die international angereisten Autoren:
Valeria Luiselli und Teju Cole. Herzlichen Dank, dass Sie unsere Einladung angenommen haben.
Andrej Bitow, Lloyd Jones, Zakhar Prilepin und Jean Rolin konnten leider nicht kommen. Allerdings ist es uns gelungen, die Schauspielerin Dulcie Smart und den Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrenikov zu gewinnen. Dulcie Smart liest aus Lloyd Jones „Die Frau im blauen Mantel“. Serebrenikov hat mit Prilepin zusammen gearbeitet und liest aus dem Original „Sankya“. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen.
Begrüßen möchte ich auch alle Übersetzer und die Jury-Mitglieder. Ich möchte Ihnen schon jetzt dafür danken, dass Sie diesen Abend wesentlich mit uns gestalten. Danken möchte ich auch dem Kuratorium, das uns in den letzten Jahren bei unserer Arbeit begleitet hat und uns hilft, die jeweilige Jury zu berufen. Ich begrüße die Kuratoriumsmitglieder Erik Bettermann, Klaus-Dieter Lehmann, Joachim Sartorius und Christina Weiss.
Last but not least geht ein besonderer Willkommensgruß an den Stifter dieses Preises, Jan Szlovak. Dank Deines Engagements, lieber Jan, können wir diesen Preis hier jährlich vergeben. Dank der Kontinuität der Zusammenarbeit mit Dir konnte sich der Preis in den letzten Jahren fest etablieren. Wir feiern heute bereits die fünfte Ausgabe.
Aber heute Abend soll es nicht nur um die Preisvergabe gehen. Sie bildet zwar den krönenden Abschluss des Programms. Dieses präsentiert aber zuvor einen Einblick in das, was wir in Anschluss an Goethe als „Weltliteratur“ bezeichnen. Der Preis verdankt sich ja seit Beginn der Einsicht, dass die Literatur heute nicht mehr als Nationalliteratur gedacht werden kann, dass vielmehr die internationale Literatur Teil unserer eigenen Kultur ist. Sie verändert unseren Denk- und Erfahrungshorizont als Leser, wirkt aber auch auf das Schreiben deutscher Autoren ein.
Es geht nun bei diesem Preis nicht um die internationale Literatur im Allgemeinen, sondern um eine deutsche Perspektive auf diese Literatur. Diese Perspektive bestimmt den Selektionsprozess. An ihm sind sowohl die deutschsprachigen Verlage mit ihren Lektoren beteiligt. Ihnen möchte ich an dieser Stelle einen besonderen Dank für die vertrauensvolle Zusammenarbeit aussprechen. Über 70 Verlage beteiligen sich jährlich durch Einsendung von Büchern an diesem Preis. An der Auswahl ist aber auch unsere Jury beteiligt, auf deren Arbeit ich im Laufe des Abends noch genauer eingehen werde. Vor diesem Hintergrund gestaltet sich die Shortlist als ein deutscher Blick aus dem Jahre 2013 auf das, was zurzeit als Weltliteratur gelten kann. Und wir freuen uns sehr, dass wir am heutigen Abend alle Bücher der Shortlist präsentieren können, einige sogar in Anwesenheit der Autoren.
Wir haben uns den heutigen Abend als ein Fest der Literatur vorgestellt. Das Wort „Fest“ stammt von dem lateinischen Wort „festum“. Es verweist auf einen rituellen Kontext. Im „Fest“ werden die Logiken des Alltags außer Kraft gesetzt. Die profanen Tätigkeiten ruhen, um der Gottheit zu huldigen. An die Stelle der Gottheit tritt heute Abend die Literatur. Das bewusste Aus-der-Zeit-, sprich der Zeit des getakteten Alltags, -Treten, eröffnet die Möglichkeit eines alternativen Denk- und Erfahrungsraumes. Im Feiern der Literatur wird ganz im antiken Sinne eine Realität jenseits der Realität sichtbar. Markiert das Fest die Zeit, so definiert heute Abend die Tafel den Raum. Jeder von uns verlässt beim Lesen von Literatur ein Stück weit die Alltagswelt, er oder sie tritt dabei ein in einen Raum der Imagination, aber als Individuum. Es handelt sich um eine subjektive Erfahrung. Die Tafel, an die wir uns im Anschluss begeben, öffnet den Raum für ein gemeinschaftliches Erleben. Sie definiert den Ort, wo die verschiedenen subjektiven Perspektiven sich begegnen können.
Bevor wir uns zur Fest- und Lesetafel begeben, freue ich mich sehr, Ihnen den Festredner des heutigen Abends Aris Fioretos vorstellen zu dürfen. Aris Fioretos ist 1960 in Göteborg geboren und schwedisch (griechisch-österreichischer) Schriftsteller und Übersetzer. Sie merken schon hier, wie die nationalen Zuordnungen ins Wanken geraten. Er hat seit 1991 ein Dutzend Bücher (Prosa; Essays, literaturhistorische Studien) veröffentlicht und u.a. Friedrich Hölderlin und Walter Serner ins Schwedische übersetzt. Auf Deutsch sind zuletzt von ihm erschienen: Flucht und Verwandlung (Biobibliographie, 2010), Der letzte Grieche (Roman, 2011) sowie Die Halbe Sonne (Prosa 2013). Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehören der ihm kürzlich verliehene Große Preis des Samfundet de Nio 2013. Er ist Vize-Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.
Wir freuen uns sehr, dass wir ihn, der sich zwischen Sprachen und Kulturen wie keine anderer bewegt, für den heutigen Abend gewinnen konnten. Als Kosmopolit, polyglotter Meister des Wortes und der Wortanverwandlung steht er in seinen Büchern und seinem Denken wie kaum ein anderer für diesen Preis.
Bezogen auf eine christliche Denktradition lässt sich festhalten: Bedeutende Stufen menschlicher Entwicklung verdanken sich der Sünde (sündhaftem Verhalten). Das Streben nach Wissen, verbunden mit dem Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis, führte zur Vertreibung aus dem Paradies. Das Streben nach weltlicher Größe, dokumentiert im Turmbau zu Babel, führte zur Zerstreuung des Menschen auf der Erde und dem Verlust der einen und dem Auftreten vieler Sprachen. Nun waren beide Ereignisse durchaus ambivalent in ihren Ergebnissen. Der Verlust des Paradieses bedeutete zwar ein schweres, aber auch vielleicht interessanteres Leben. Der Verlust der einen Sprache erschwerte zwar die Kommunikation zwischen den Menschen, führte aber auch zu einem Reichtum an Perspektiven und Weltsichten.
Und damit sind wir bei einem wesentlichen Kern des heutigen Abends angelangt, dem Übersetzen. Der Preis ist ja auch ein Übersetzerpreis. Nun kennzeichnet auch das Übersetzen die gerade angedeutete Ambivalenz bzw. Spannung. Der Übersetzer strebt in seiner Arbeit an, nicht nur den Inhalt des Originals, das Was der Welt, sondern auch die Form, das Wie der Darstellung, wiederzugeben. Es ist buchstäblich die Arbeit von Sisyphus: das Ideal der Deckungsgleichheit beider Texte ist dabei nicht zu erreichen, da sich ja die Logiken und Strukturen der beiden Sprachen, diejenige des Originals und die der Übersetzung, unterschiedlichen Denk- und Erfahrungsräumen verdanken. Wer an dieser Aufgabe nicht verzweifelt, gewinnt.
Er oder sie dringt in immer tiefere Erfahrungsschichten der jeweiligen Sprache vor, erschließt sie für sich und andere. In diesem Sinne sind die Übersetzer auch die großen Archäologen unserer Sprachen und der damit verbundenen Denk- und Erfahrungsräume.
Ich freue mich sehr, heute alle von ihnen hier begrüßen zu können:
Susanne Macht, Sabine Müller, Grete Osterwald, Christine Richter-Nilsson, Rosemarie Tietze, Erich Klein und Holger Fock. Ihnen, den Übersetzern verdanken wir wesentlich die Vielstimmigkeit des heutigen Abends. Dank Ihrer Arbeit können wir heute Abend Werke aus vier Sprachen vorstellen, dem Russischen, dem Englischen, dem Französischen und dem Spanischen.
Es sind Erstlingswerke wie Werke bereits etablierter Autoren. Werke, die die Spannbreite des heutigen Romans ausloten: vom essayhaften Schreiben über erzählende Fiktion bis hin zur literarischen Reflektion.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir kommen nun zur 5. Preisverleihung des Internationalen Literaturpreises – Haus der Kulturen der Welt. Dieser Preisverleihung geht ein langer Auswahlprozess durch die Jury voraus. Jurysitzungen haben etwas Dramatisches. In trivialisierter Form wurde dies ja auch vom Fernsehen entdeckt und wird in den vielen Wettbewerben zelebriert. Im Falle einer literarischen Jury ist das Dramatische gebunden an die existentielle Erfahrung jedes Jurymitglieds mit Literatur. Es geht nicht um die Bewertung eines abstrakten definierten Gegenstands, sondern um eine Leseerfahrung, in die das einzelne Jurymitglied seine eigene Realitäts- wie Literaturerfahrung mit einbringt.
Deshalb ist der Auswahlprozess schmerzhaft, umkämpft, nie einfach, trivial oder auch nur prosaisch. Es geht immer um das Ganze.
Was ist heute Literatur, was kann, was soll sie leisten?
Wie bemisst sich ihre Werthaltigkeit?
Welche ästhetische Komplexität ist noch nachvollziehbar?
Worin besteht das Neue?
Was ist im Vergleich bei der finalen Entscheidung höher zu bewerten: Form oder Inhalt?
Jeder der Juroren ist und versteht sich zunächst als individueller Spieler. Gleichwohl besteht die Kunst, die Qualität einer Jury darin, zum Schluss bei aller Individualität zu einem gemeinsamen Urteil zu kommen. Das Tolle unserer Jury bestand darin, dass dieser Prozess immer interessant, anregend, mit großer Emotionalität geführt wurde. Am Ende stand in der Regel aber nie eine numerische Entscheidung, sondern eine konsensuelle, die unter Abwägung aller Gesichtspunkte die Shortlist nominierte und den Sieger kürte.
Ich möchte Ihnen dafür allen ganz herzlich einzeln danken: Marie Luise Knott, Claudia Kramatschek, Ricarda Otto, Ilma Rakusa, Egon Ammann, Hans Christoph Buch und Kersten Knipp.
Wir hören zunächst die Laudatio auf die Preisträger, die uns Claudia Kramatschek als Jurymitglied präsentieren wird und die nachfolgend im Gespräch mit Teju Cole und Chrstine Richter-Nilsson, den Preisträgern, die vielschichtigen Facetten des prämierten Titels „Open City“ erkunden wird.
Dank an alle Beteiligten, an die Autoren und Übersetzer, an die Jury für Ihre Mitwirkung, ihre Arbeit und Unterstützung. Kein Fest ohne Unterstützer und Partner: Ich darf an dieser Stelle unseren Medien- und Kooperationspartnern herzlich danken:
der Deutschen Welle,
dem Verband der Literaturübersetzer,
dem Buchmarkt,
dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels Berlin Brandenburg,
dem Deutschlandradio Kultur,
der Zeitschrift Schweizer Monat und dem Literarischen Monat,
dem Online-Portal Faust-Kultur,
und der Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
Für die freundliche Unterstützung unserer Shortlistnacht und unseres literarischen Festes danken wird zudem:
Der Botschaft der französischen Republik in Berlin
Und der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin
Ich freue mich, wenn wir mit Ihnen, den Autoren und Übersetzern diesen Abend nun an der Festtafel ausklingen lassen können.
Berlin, Haus der Kulturen der Welt
12. Juni 2013