Konferenz
Socializing Evidence
Für diese Veranstaltung gilt aktuell die Getestet-Geimpft-Genesen-Regelung (GGG).
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Auf Englisch mit deutscher Simultanübersetzung
Das Erstarken kontrafaktischer Politik on- und offline stellt Gesellschaften vor ein Dilemma. Einerseits können sie die institutionelle Basis faktischer Autorität durch die Unterstützung der bestehenden Justiz, Medien, Universitäten und kulturellen Einrichtungen untermauern. Ein anderer Ansatz ist riskanter: Die institutionelle Krise lässt sich als Chance begreifen für eine radikale Umgestaltung der Art und Weise, wie Fakten produziert und verbreitet werden. Dieser Ansatz reagiert auf die Skepsis gegenüber institutionellen Verlautbarungen mit kollektiver Wahrheitsproduktion – eine, die sowohl breit wie auch divers angelegt ist und auf einer gemeinsamen Praxis beruht, die ästhetisches und wissenschaftliches Feingefühl berücksichtigt. Bei der Konferenz kommen – organisiert von einer solchen Community of Practice, dem Investigative Commons – Ermittler*innen, Jurist*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen, Architekt*innen und Akademiker*innen zusammen. Sie diskutieren neue investigative Praxen und ihr Potenzial, Behauptungen, Faktendarstellungen und ihre Plattformen herauszufordern: Die Massenmedien stürzten durch Open-Source- und Bürger*innenjournalismus in eine Krise, Kulturinstitutionen wurden Schauplätze politischer Auseinandersetzungen und vor Gericht stehen ganze Verfahren in Frage, aufgrund neuer Beweisformen, die von Bürger*innen produziert und durch Crowds verifiziert wurden.
16h
Begrüßung von Bernd Scherer
Einführung von Eyal Weizman: Was ist das Investigative Commons?
16.30–17.45h
Medien
Diskussion mit Hadi Al Khatib, Lina Attalah, Gabriela Ivens und Stefanos Levidis, moderiert von Emily Dische-Becker
Das Internet ist das größte, vielfältigste und komplexeste Informationssystem, das es gibt. Für Open-Source-Ermittlungen wird Beweismaterial aus frei im Internet zugänglichen Daten gesammelt, verifiziert, analysiert, abgeglichen, verortet und zusammengeführt – oft in Echtzeit. Unter diesen neuen Bedingungen des Informationsflusses sind es oft die von Gewalt betroffenen Gruppen selbst, die als erstes – und lange vor den Massenmedien – visuelle Beweise liefern. Gesellschaftliche Organisationen nehmen so nicht nur die (Beweis-)Beschaffung, sondern die Darstellung der sie umgebenden Realität selbst in die Hand. Das Panel thematisiert, wie diese Formen der Open-Source-Ermittlung ein neues Feld des Bürger*innenjournalismus erschlossen haben und heute oftmals Teil der Massenmedien geworden sind. Ist das investigative Vorgehen – neben methodischen Aspekten – nicht vor allem als Ergebnis und Quelle neuer gesellschaftlicher Organisationsformen und Arbeitsmodelle zu betrachten?
18–19.15h
Museen
Diskussion mit Henrike Naumann, Decolonize This Place (Nitasha Dhillon, Amin Husain) und Nan Goldin, moderiert von Anselm Franke
Mit sozialen Bewegungen, Protesten, Boykotts, Schließungen und Besetzungen haben selbstorganisierte Aktivist*innen Kunst- und Kulturräume zu Orten der Kontroverse und Verantwortung gemacht. Eine neue investigative Ästhetik bündelt dabei Strategien von Künstler*innen und Architekt*innen und deckt die Mitschuld von Kunstinstitutionen und Mäzen*innen an Unrechtssystemen auf, die Sichtbarkeit von Museen ermöglicht dabei politischen Druck. Diese Praxen in Kunsträume einzuladen bringt nicht nur neue Formen und Inhalte an die Wände. Vielmehr bedingen sie, dass sich die Institutionen mit einer Reihe von Forderungen konfrontieren lassen müssen. Das politische Vokabular der Institutionskritik, deren ästhetische Praxis die Beeinflussung der Kunst durch wirtschaftliche und ideologische Kräfte verdeutlichte, spricht jetzt von einer Institutionskontroverse. Im Zentrum des Panels steht die Frage: Wo treffen sich das System Kunst und die zeitgenössischen Befreiungskämpfe?
19.45–21h
Gerichte
Diskussion mit Başak Ertür, Hanaa Hakiki, Chrysa Papadopoulou und Christina Varvia, moderiert von Wolfgang Kaleck
Im Internet gefundene Videos enthalten neben der bildlichen Darstellung einer gefilmten Realität oft auch die Stimmen der Filmenden selbst: ihr Weinen, Fluchen, Schreien oder Erzählen. Solche nutzer*innengenerierten Videos brechen mit der gängigen Trennung von Beweismittel (in Bezug auf Dinge) und Zeugenschaft (in Bezug auf Menschen). Neben Satellitenbildern, Fernerkundungs- und Überwachungsmaterial und Aussagen von Zeug*innen können solche Videos entscheidende Beweise liefern und damit potenziell Gerichtsverfahren neu ausrichten. Das Können etwa von Architekt*innen und Filmemacher*innen, im juristischen Prozess bisher unbeachtet, wird für diese neue „forensische Ästhetik“ unverzichtbar. Wenn Gerichte keine Gerechtigkeit herstellen, können alternative Foren wie Bürger*innentribunale als Orte für Forderungen entstehen. Die Beitragenden des Panels diskutieren, inwiefern Gerichte durch diese neuen Beweisformen zu Orten für politische Kontroversen, Kämpfe und Transformationen werden.
21h
Schlussbemerkung von Wolfgang Kaleck