Inputs, Diskussionen
Die Nation-Form: Geschichte und Gegenwart
Mit Brenna Bhandar, Baidik Bhattacharya, Manuela Bojadžijev, Mark Graham, Kaushik Sunder Rajan, Kalindi Vora
Im Kapitel Die historische Nation arbeiten Balibar und Wallerstein heraus, wie Rassismus im Zusammenhang mit der Konstituierung von Klassen aufkommt und damit die soziale Stratifikation sichert. Der Nationalismus wiederum erfüllt eine Doppelfunktion: Er mobilisiert die Gesellschaft, den eigenen Staat gegenüber anderen abzugrenzen, und befeuert eine imperialistische Politik. Wie lässt sich diese Analyse auf die heutige Zeit übertragen, in der sich autoritäre und rassistische Formen des Nationalismus ausbreiten? Nationalstaaten sind dabei, sich vermittels politischer, technologischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Umwälzungen neu zu definieren: Traditionelle Haushaltsstrukturen lösen sich auf. Die Reproduktionsarbeit wird per Leihmutterschaft und „Care-chains“ auf globalem Niveau ausgelagert. Digitale Technologien regeln immer größere Bereiche gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interaktion, was neue Fragen für Staatsbürgerschaft und Arbeitsrechte aufwirft. Der inhärente Widerspruch zwischen der Forderung nach freiem Warenverkehr und verschärften Maßnahmen gegen Bewegungsfreiheit ist nicht mehr zu übersehen. Nicht zuletzt wuchert der Einflussbereich des Eigentums ungehemmt. Was bedeuten solche Veränderungen für unser heutiges Verständnis der Nation als politische Form? Frühere Strukturen und Atmosphären eines autoritären Nationalismus tauchen wieder auf – auch unter dem aktuellen Banner eines transnationalen Finanzkapitals. Wie lassen sich unter diesen Bedingungen Vorstellungen von individuellen wie kollektiven Rechten und von einer demokratischen Verfassung ziviler Gesellschaften entwickeln? Inwieweit beziehen solche Entwürfe die politische Mobilisierung der Linken ein – beziehungsweise machen sie überhaupt erst sichtbar?
Kaushik Sunder Rajan im Gespräch mit Brenna Bhandar
Nation: Formen und Formierung
Der Nationalstaat konstituiert sich durch Herausbildungen von Autorität und Zugehörigkeit, um eine soziale Ordnung herzustellen und zu festigen und eine grundlegende Unterscheidung zwischen innen und außen aufrechtzuerhalten. Der Anthropologe Kaushik Sunder Rajan und die Rechtswissenschaftlerin Brenna Bhandar betrachten die Funktionalität und Dysfunktionalität dieser Formation im globalen Kapitalismus.
Brenna Bhandar im Gespräch mit Baidik Bhattacharya
Eigentum, Souveränität und Kolonialismus
Brenna Bhandar und der Literaturwissenschaftler Baidik Bhattacharya diskutieren den Begriff des Eigentums und fragen, inwiefern er sowohl koloniale Strukturen als auch die Konstruktion von Nationen durchdringt. Brenna Bhandar erforscht das Verhältnis zwischen modernem Eigentumsrecht und rassifizierter Subjektivität und untersucht, inwieweit dieses juristische Konstrukt in Siedlerkolonien den Kern des Nationalstaats ausmacht. Wie wird die Subjektivität des „richtigen“ Bürgers sowohl durch Privateigentumsverhältnisse konstituiert, die auf der Aneignung indigenen Lands basieren, als auch durch rassifizierte und vergeschlechtlichte Konzepte des Menschen? Politischer Widerstand erfordert neue politische Vorstellungswelten, die darauf hinarbeiten, den rechtlichen Status des Eigentums von seiner gegenwärtigen Form zu lösen.
Baidik Bhattacharya im Gespräch mit Mark Graham
Das Narrativ der Nation
Die Geschichte der Nation-Form erscheint als schicksalhaft lineare Erzählung. Doch wie genau entstand dieses Narrativ? Baidik Bhattacharya und der Internetgeograf Mark Graham sprechen über die Systeme der Wissensproduktion, die in die Konstruktion der Nation und ihrer einzigartigen Fähigkeit, Klassenkonflikte zu beruhigen, eingebunden sind. Baidik Bhattacharya geht der Idee nach, dass alle modernen Nationen durch Kolonialismus entstanden sind. Er stellt seine Forschung in den Kolonialarchiven Südasiens vor, um zu zeigen, dass die Idee der Nation zum ersten Mal im 19. Jahrhundert – in modernen Disziplinen wie Komparatistik und Literaturgeschichte – schlüssig ausformuliert wurde (Disziplinen, die aus der Begegnung zwischen Europa und dessen Kolonien entstanden sind), und dass dieser Teil der Geistesgeschichte der Nation nicht ohne den kolonialen Kontext verstanden werden kann.
Mark Graham im Gespräch mit Kalindi Vora
Digitalisierung und Reproduktion
Haushalte, definierte Verwandtschaftsformen und Genealogie bildeten schon immer zentrale institutionelle Strukturen der Nation-Form und der kapitalistischen Ökonomien. Mark Graham und Kalindi Vora, Theoretikerin der Critical Race und Gender Studies, diskutieren, wie die Transformation dieser Strukturen – durch Digitalisierung und Globalisierung des Arbeitsmarkts – ebenso auch die Nation-Form selbst verändern. In seiner Präsentation legt Mark Graham den Schwerpunkt auf die Entstehung eines „planetaren Arbeitsmarktes“ und untersucht, wie sich die Konkurrenz auf globaler Ebene auf das Leben der Arbeitenden auswirkt. Diese neue Arbeitswelt verspricht vielen Menschen Arbeitsplätze und Chancen, doch gibt sie gleichzeitig berechtigten Anlass zur Sorge. Wie können die Antworten auf eine globale Arbeitswelt lauten? Abschließend spricht Kalindi Vora über die Auslagerung der reproduktiven Arbeit und anderer Formen affektiver Investitionen. Wenn sich Körper, Arbeitskraft, Arbeit und sogar genetisches Material über Grenzen hinwegbewegen, wie verstehen wir dann die „Reproduktion“ der Nation? Leihmutterschaften und Technologien der künstlichen Fortpflanzung können neue soziale Formen erzeugen, die weitreichende Auswirkungen auf Verwandtschaftsstrukturen haben. Das gilt selbst dann, wenn sich zugleich die Idee der „Familie“ darauf verlagert, veraltete Modelle von Patriachat und Kleinfamilie zu erhalten. Vora untersucht diese Auswirkungen als auch die neuen Bündnismöglichkeiten, die sich daraus ergeben.
Programm in Zusammenarbeit mit Manuela Bojadžijev, Katrin Klingan, Kaushik Sunder Rajan
Kurzbiografien: Brenna Bhandar, Baidik Bhattacharya, Manuela Bojadžijev, Mark Graham, Katrin Klingan, Kaushik Sunder Rajan, Kalindi Vora