Kuratorisches Statement
Was ist die Spezifik des heutigen Rassismus? Was macht eine Wiederbeschäftigung mit Rasse, Klasse, Nation heute attraktiv und aktuell?
Im Verlauf der 1980er Jahre trafen sich der Philosoph Étienne Balibar und der Historiker und Soziologe Immanuel Wallerstein mit eingeladenen Gästen mehrfach zu Seminaren am damals von Fernand Braudel geleiteten Maison des Sciences de l’Homme (MSH) in Paris. Die historischen Konstruktionen der von ihnen ausgewählten Leitkategorien „Rasse“, „Nation“ und „Klasse“ sollten angesichts konjunktureller Entwicklungen im Sinne einer Erneuerung marxistischer Ideen neu bestimmt werden. Welche Rolle spielten Rassismus und Ethnifizierung für linke Politik sowie für eine theoretische Analyse gesellschaftlicher Veränderungen im Weltmaßstab?
Aus diesen Diskussionen entstand das dialogisch in Essays aufgebaute Buch Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, das 1988 erstmals auf Französisch erschien und zu einem Standardwerk der Rassismusforschung avancierte; nicht zuletzt, weil Balibar darin die Zeitdiagnose vom „Rassismus ohne Rassen“ ausformuliert hatte. Rassismus, so die gemeinsame Diagnose von Balibar und Wallerstein, stelle eine der größten Herausforderungen an emanzipative und solidarische Vorstellungen der Zukunft dar.
Eine der folgenschweren Überlegungen des Bandes besteht darin, einer Reihe von grundlegenden Paradoxien des Kapitalismus nachzuspüren und auf diese Weise die gesellschaftliche Organisation in einem solchen System als stets instabil zu analysieren. Eigentlich müssten Rassismus und Nationalismus schon allein mit Blick auf Gewinninteressen äußerst problematisch sein, weil sie das Potenzial an auszubeutender Arbeit beschränken – zielen sie doch auf Ausgrenzung, Vertreibung und machen nicht zuletzt auch die Vernichtung von Menschen denkbar. Staaten in ihrer Nation-Form wiederum erweisen sich als problematisch, weil sie den Kapitalfluss nicht nur regulieren, sondern auch zuweilen behindern. Müssten politische Anstrengungen nicht dahin gehen, diese Konstruktionen und Systeme hinwegzufegen? Gerade weil sie sich als historische Wiedergänger erweisen, bedarf es einer Erklärung, warum sie noch nicht aufgelöst sind und in welchem Zustand sie sich heute befinden.
Der im Buch festgehaltene Dialog zwischen den beiden Wissenschaftlern eröffnete Raum für Problematiken und Untersuchungsansätze, die eine doppelte, manchmal verwirrende Perspektive einnehmen: eine Perspektive, in der die historischen Konstruktionen für eine Bestimmung der Gegenwart nicht nur diskret, sondern notwendigerweise in einem bisweilen widersprüchlichen Zusammenspiel erkennbar werden. Für Balibar wie auch Wallerstein war mit der Frage nach dem Rassismus die Beobachtung einer sich immer wieder neu konstituierenden Gesellschaftsformation verbunden. Es ist diese Verbindung aus Zeitdiagnose, politischem Engagement und theoretischer Arbeit, die das Unternehmen damals auszeichnete und bis heute attraktiv macht.
Deutlich zeigt sich die Kritik an marxistischen Diskursen, die andererseits zugleich das Fundament ihrer Weiterentwicklung bilden. In den Überlegungen zeichnen sich Einflüsse von Theorien des Antisemitismus ab, Theorien, die aus den anti-kolonialen und Anti-Apartheid-Kämpfen ebenso wie aus der Civil Rights-Bewegung und den Kämpfen der Migration und der Frauen hervorgegangen sind. Feministische Einsichten zu Sexismus und Nation oder zu transnationalen Haushaltsstrukturen finden Eingang in den Diskurs. Die „produktive Entortung“ dieser Einflüsse und ihre Kombination mit Einsichten eines unorthodoxen Marxismus machen das Buch so stark. Eine solche Synthese erforderte einerseits die Akzeptanz marxistischer Prämissen, andererseits ihre Modifikation sowie teilweise eine Entgegensetzung oder zumindest einen Richtungswechsel marxistischer Themen.
30 Jahre nach Erscheinen des Buches möchten wir gemeinsam mit den beiden Theoretikern, vielen weiteren internationalen Gästen sowie dem Publikum den Zusammenhang der ambivalenten Kategorien von „Rasse“, Klasse, Nation sowie von Geschlecht, das in dem Buch prominent konzeptualisiert wird, vor dem Hintergrund der Diskussion aktueller Entwicklungen systematisch analysieren. Thesen zum Rassismus in globaler Perspektive werden seit einigen Jahren von relevanten Autor*innen diskutiert: beispielsweise die These von David Theo Goldberg, der die gegenwärtige „post-rassistische Situation“ als Aktualisierung und Verschiebung rassifizierender Kategorien zugleich diagnostiziert und als „Anthroporassismus“ bezeichnet; oder die Fortsetzungen eigener Überlegungen von Balibar, in denen er von einer Proliferation rassistischer Kategorien spricht – und damit von einer zugleich intensiven wie extensiven Ausweitung von Rassismus ausgeht. Auffällig an allen Ansätzen ist die Diagnose, dass sich Rassismus auf neue Weise mit Armut und Prekarisierung verbindet. Darin ist ein Konzept von Klassen enthalten, das bislang keine aktuelle Ausarbeitung in der Rassismusforschung erhalten hat. Ließe sich vielleicht zuspitzend fragen, ob nicht nur die national-soziale Form des Staates, wie in zahlreichen Ansätzen konstatiert, sondern auch die Klassenverhältnisse und der Rassismus in die Krise geraten sind und deshalb geklärt werden muss, ob und wie ihre Analyse eine theoretische Erneuerung erfahren können und müssen?
Diese Thesen sollen hier innerhalb neu zu denkender, temporärer Orte der Wissensproduktion diskutiert werden, die trans-disziplinär und trans-national organisiert sind. In gewisser Weise stellte das damalige Unternehmen am MSH in Paris einen solchen Ort dar. Die Organisation der Seminare sprach von einer „Praxis der Theorie“, die sich als kontinuierliches Engagement oder Dialog zwischen Positionen versteht und auf die gemeinsame Klärung von Fragen und Begrifflichkeiten abzielt. Die Herausforderung an die heutige Zeit besteht darin, nicht nur die theoretischen Fragen neu zu formulieren, sondern sie vielmehr in den Horizont einer Veränderung gesellschaftlicher Formationen und der kritischen Praxis zu stellen. Methodisch bedeutet dies, bekannte Begriffe nur insofern zu stabilisieren, als sie zugleich neu orientiert werden können, um einen Prozess des Denkens anderer Möglichkeiten anzustoßen. Genau das will die Veranstaltung versuchen – das Haus der Kulturen der Welt steht hier stellvertretend als Ort für zukünftige Formen der Wissensproduktion.
Das Zentrum der Veranstaltung bildet daher ganz bewusst die Frage, was eine „Praxis der Theorie“ heute bedeuten kann, nicht nur als akademisch eingeübte Reflexion, sondern als Akt der gesellschaftspolitischen Verhandlung in Zeiten, in denen „gefährliche Konjunkturen“ sich durch eine populistische und autoritäre Politik der Stärke abzeichnen.
Manuela Bojadžijev, Katrin Klingan