Technologie im Zeichen des Anthropozäns
Technologien bestimmen unsere Vorstellung davon, was Leben und was Zusammenleben sein könnten. Zunehmend formen sie die Bedingungen, die Leben begünstigen oder begrenzen. Mit Hilfe von Technologien können Menschen das Klima ganzer Planeten „spüren“, kilometertief in die Erde „sehen“ oder das ferne Zittern sterbender Sterne „hören“. Wir können unsere Körper mit künstlichen Häuten aus intelligenten Fasern oder mit Hilfe von hormonellen Injektionen schützen und erweitern. Synthetische Biologie und Climate Engineering verändern die biologischen und klimatischen Gegebenheiten unseres Planeten (und bald auch darüber hinaus) und eröffnen Möglichkeitsräume für organisches und anorganisches Leben, die weitreichender sind, als man es sich je vorstellen konnte.
Hybride Begriffe wie das Anthropozän oder die Technosphäre versuchen, die dynamischen Beziehungen zwischen Mensch, Umwelt und Technologie auf planetarischer Ebene beschreibbar zu machen. Das Konzept der Technosphäre vermittelt eine Vorstellung davon, wie sich natürliche und technische Kräfte zusammensetzen, die wir als den Zustand der Gegenwart erleben. Wie eine Hülle bettet die Technosphäre nahezu sämtliche Mensch-Umwelt-Interaktionen ein und reguliert schon jetzt zu weiten Teilen die Existenzbedingungen verschiedener Lebensformen auf dem Planeten. Wir erleben Entwicklungen, die ganz konkret technosphärischer Natur sind: in der „Hardware“ von Rohstoffindustrien und Transportsystemen, Städten und Agrarlandschaften, aber ebenso in der „Software“ globaler Normen und Standards, in sozialen Regulierungssystemen und Bürokratien oder im algorithmischen Handel virtueller Werte. In diesen technischen Verknüpfungen werden die diversen menschlichen und nichtmenschlichen Gemeinschaften der Erde in ein System der Massenproduktion und Konsumtion eingebunden, das in einer unaufhaltbaren Spirale heiß läuft. Wie können wir über diese enormen Gesamtsysteme sprechen, wenn wir von ihrer Artikulation im Lokalen ausgehen? Oder andersherum: Wie können wir ausgehend von lokalen Gegebenheiten planetarisch wirksame Verhältnisse durchdenken?
Wenn die Welt offen gegenüber technologischen Veränderungen ist, wird das, was wir das „Natürliche“ nennen, zur Projektionsfläche politischer Handlungsmacht, zum Raum für die Aushandlung und Durchsetzung von Zielen, Normen und Möglichkeiten. Dies rückt ethische Werte ins Zentrum unserer Lebensformen. Das Dilemma allgegenwärtiger Technologien und ihrer Gegenwart bildete das Kernthema des experimentellen Forschungsprojekts Technosphere am Haus der Kulturen der Welt, das seit 2015 Akteur*innen aus Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft in eine Debatte darüber brachte, was geschieht, wenn das Technologische mit dem Natürlichen um die Gestalt der Welt konkurriert. Was geschieht, wenn sich die Grenzen von Ursache und Wirkung, Lokalem und Globalem, Menschlichem und Nicht-Menschlichem ununterbrochen verwischen? Fragen nach der Operativität planetarer Apparaturen, der Technizität von Wissenspraktiken und -ordnungen, nach historischen Entfesselungsmomenten und ihren Pfadabhängigkeiten standen im Fokus der vergangenen drei Stationen des Projekts. Nun, in der abschließenden Phase, nehmen wir die Technosphäre als einen Horizont in den Blick, vor dem neue Lebensformen entstehen.
Lebensformen in der Technosphäre
Technologien geben vor, wie Elemente eines Systems miteinander verbunden sein könnten oder sollten, um einen bestimmten Vorgang oder ein Ergebnis zu ermöglichen, und verweben einzelne Prozesse zu einem größeren, allgemeineren Konstrukt. Felder wie synthetische Biologie und Nanowissenschaften, CRISPR/Cas9 und die Entwicklung algorithmusbasierter Modelle haben diesen Phänomenen jedoch eine ganz neue Qualität verliehen. Sie sind Folgen eines spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts herrschenden, bewusst konstruktivistischen und interventionistischen Zugangs zur Welt auf molekularer, systemischer und symbolischer Ebene – ein Zugang, der den Technologiebegriff enorm erweitert hat. Die drastisch zunehmende Geschwindigkeit und Wirkmächtigkeit, mit der Technologien sich ausdifferenzieren und Leben formen, verlangt nach einer Formulierung von Strategien, Haltungen und Registraturen. Wie lassen sich Orientierungskriterien finden, um gemeinsame Ziele und Visionen zu formulieren und diese durch unsere sozio-technischen Lebensformen auszudrücken? Welche und vor allem wessen Wertgefüge beeinflussen die Welt auf ihrem Weg in eine Zukunft, in der Menschen und Technologien um Organisationshoheit über das Irdische ringen? Mithilfe welcher Strategien können wir diesen Dynamiken begegnen und mit ihnen umgehen?
Lebensformen strukturiert sich um zehn spekulative Fragen und vier epistemische Untersuchungsmethoden, die das Verständnis dessen, was eine Lebensform ausmachen kann, in den Blick nehmen. Gespräche sowie künstlerische und performative Strategien bilden das Gerüst, um drei Tage lang Forschungsmaterialien und wissenschaftliche Zugriffe – aus der Soziologie, den Literaturwissenschaften, der Molekularbiologie oder der Anthropologie – neu zu fassen und experimentell miteinander in Verbindung zu setzen. Lebensformen findet im HKW-Auditorium statt, das zum leeren Raum umgestaltet wird: Die Sitzordnung ist aufgehoben, die technische Infrastruktur weitestgehend ausgebaut. Die räumliche und zeitliche Organisation des Ereignisses entsteht in einem Zusammenspiel von choreografischem Werk, akustischen Anreizen und künstlerischen Inszenierungen. Räumliche wie zeitliche Gesten und Bewegungen orchestrieren den Rhythmus der Veranstaltung, die Art und Weise, wie Gespräche zusammengeführt werden, und nicht zuletzt die Verbindung zwischen den Beiträgen und dem Publikum.
Das Programm ist in drei ineinanderlaufenden Elementen organisiert. Den Kern dieser Struktur bildet die choreografische Arbeit von Xavier Le Roy und Scarlet Yu, die sich zusammen mit einem Team von Performer*innen mit Prinzipien der Transformation beschäftigen und das Geschehen im Raum formal wie konzeptionell steuern. Basierend auf der Arbeit Temporary Title, 2015 hinterfragen sie Trennlinien zwischen menschlich/nicht-menschlich, Objekt/Subjekt, Transformation/Übergang/Modifikation. Sie erkunden individuelle und gesellschaftliche Veränderungsprozesse und lassen im Zusammenspiel mit den Besucher*innen eine mäandernd fließende Umgebung entstehen.
Inmitten dieser choreografischen Organisation finden Forschungsgespräche statt, in denen die Wissenschaftshistorikerin Sophia Roosth mit Vertreter*innen aus Wissenschaft, Kunst und Philosophie das Bedeutungsspektrum des Begriffs „Lebensform“ erkundet. Das Verständnis dessen, was eine Lebensform ist, verändert sich durch den alltäglichen und wissenschaftlichen Gebrauch des Wortes, wie sich anhand der Begriffsgeschichte in den Natur- und Geisteswissenschaften nachzeichnen lässt. Die unterschiedliche Verwendung und methodische Rahmung von „Lebensform“ wirkt sich auf das Wissen und das Verständnis dessen aus, was Leben und was Form ist, und wie beide zusammengedacht werden könnten. Die Forschungsgespräche fragen danach, inwiefern idealisierte Formen (Idealized Forms) bestimmte Auffassungen von Leben hervorbringen und wie es sich in verschiedenen Umgebungen transformiert (In Formation). Außerdem diskutieren die Teilnehmenden, wie Praktiken (Making) und Modellierungen (Landscapes) der Lebensgestaltung Vorstellungen von Leben beeinflussen können.
In diese Struktur eingewoben ist eine Reihe von 10 spekulativen Fragen, die Möglichkeiten von Handlungsmacht erkunden. Wissenschaftler*innen und Künstler*innen analysieren Reibungsmomente zwischen Technologien, Gesellschaftssystemen und Wertevorstellungen aus verschiedenen Perspektiven, auf unterschiedlichen Skalen und anhand verschiedener Praktiken. Gleichzeitig setzen sie sich mit epistemischen Grenzen und methodischer Inkommensurabilität auseinander. Ziel dieser Erkundungen ist die Entwicklung von Instrumenten, um Werte- und Methodenfragen neu zu diskutieren und zu durchdenken. Wie gehen die Erscheinungsformen des Lebens aus der spannungsgeladenen Konstellation natürlicher Prozesse, menschlicher Kulturen und ihrer Technologien hervor? Wie wirkt sich dieses Dreiecksverhältnis konkret aus: auf Sorgearbeit, auf technologische Innovationen und nicht zuletzt auf das kollektive Aushandeln der Strategien und Werte, die für die planetarischen Lebensgrundlagen ausschlaggebend sind?
Das Narrativ unser Gegenwart leitet sich nicht zuletzt davon ab, wie Lebensformen aus einem neuen Alphabet der Technik und Technologie zusammengesetzt werden. Lebensformen ist daher ein Versuch, neue wissenschaftliche und technologische Möglichkeiten zu einem Zeitpunkt zu erfassen, zu dem sie sich mit Traditionen und Prozessen, die bereits im Gang sind, verweben. Lebensformen erforscht die Möglichkeiten, die sich daraus in neuen Politiken, Wertgefügen und sozialen Verhältnissen herausbilden könnten. Auf diese Weise werden wir nicht mehr fragen müssen, was Technologie überhaupt ist, sondern welche Formen unser Leben annehmen muss, damit wir die Resonanzen der Vergangenheit und derjenigen Werte hören können, die es uns ermöglichen, Vorstellungen einer Zukunft und künftiger Lebensformen zu entwickeln.
Katrin Klingan, Nick Houde, Janek Müller, Johanna Schindler, Christoph Rosol in Zusammenarbeit mit Bernard Geoghegan