Kuratorischer Text
Saving Bruce Lee – seinen enigmatischen Titel verdankt dieses Projekt einer Anekdote, die der ivorische Regisseur Philippe Lacôte anlässlich der Vorführung seines Films Run beim Filmfestival in Cannes erzählt hat. Sie handelt von dem Moment, in dem Lacôte der Faszination des Films erlag: Als Jugendlicher ging er in Abidjan ins Kino und sah zum ersten Mal einen Film mit Bruce Lee. In einer bestimmten Szene war der Action-Held von Feinden umzingelt. Er erledigte sie nacheinander, doch plötzlich schlich sich einer von ihnen unbemerkt aus seinem Gesichtskreis und lauerte auf den richtigen Moment, um über ihn herzufallen. Als er Lee hinterrücks attackierte, sprang ein Zuschauer mit einem Messer in der Hand aus seinem Sessel, zerfetzte die Leinwand und rief Bruce Lee zu, er werde ihm das Leben retten. In diesem Augenblick, so Lacôte, habe er die Macht des Kinos begriffen.
Diese Geschichte faszinierte uns nicht zuletzt, weil sie an das breite Spektrum der Filmhelden erinnert, die seit Langem durch die kulturelle Vorstellungswelt des afrikanischen Kontinents und der arabischen Welt geistern. Ab Mitte der 1970er Jahre regierte Bruce Lee auch hier als unumstrittene, heiß geliebte und hoch verehrte Heiligengestalt. Mit seiner Kampfkraft und Gerechtigkeitsliebe schlug er die Fantasie der Reichen und der Armen, der Aufrechten und der Widerspenstigen, der Mächtigen und Entrechteten gleichermaßen in seinen Bann. Er war möglicherweise der allererste und langlebigste globale Leinwandkönig, bevor die Actionfilme aus Bollywood den Markt in diesem Teil der Welt überschwemmten.
Filmische Vorstellungswelten und gesellschaftliches Umfeld des afrikanischen und des arabischen Films zu erforschen, führt unweigerlich zur Frage nach den Bedingungen, unter denen diese Filme distribuiert, gezeigt und gesehen werden, in weiterer Folge auch zu der nach ihren Sprachen, Poetiken, Produktionsweisen und ideologischen Paradigmen. Die Gründung eines „nationalen“ Films hing unmittelbar von der eines unabhängigen Staates, aber auch von der Existenz eines souveränen Publikums und von privaten Produktionsunternehmen ab. Bedeutete die Krönung von Bruce Lee zum Volkshelden vor diesem Hintergrund nun einen Meilenstein oder eine Zeitenwende? Entthronte Bruce Lee einheimische Kinohelden, oder war sein Thron zuvor vakant? Solche Fragen führten uns weiter zur Erkundung der postkolonialen Verhältnisse, die die ersten zwei oder auch drei Jahrzehnte des afrikanischen und arabischen Films geprägt haben, denn zu diesen historischen Bedingungen gehörte eben auch die Erfindung nationaler Identifikationsfiguren und Volksgemeinschaften, die cineastische Erschaffung eines nationalen Narrativs und die visuelle Erfassung einer nationalen Landschaft.
Historische Darstellungen des Films in Afrika und im arabischen Raum haben zumeist gründlich die Werdegänge der Filmemacher untersucht, die auf der westlichen Seite des Kalten Krieges ausgebildet wurden. Sie sind den Einflüssen der Lehrer auf diese Schüler und mittelbar auf deren lokale Filmkulturen nachgegangen. An den Beispielen des Institut des hautes études cinématographiques (IDHEC), Vorläufer der heutigen La femis in Paris, oder auch des italienischen Neorealismus haben sie gezeigt, in welchem Maß solche Institutionen für das Filmschaffen in Afrika und im arabischen Raum bestimmend waren und sind. Demgegenüber blieb der Einfluss der Schulen und Lehrmeister der östlichen Seite weitgehend unerforscht, obwohl eine beeindruckend große Zahl von Filmemachern aus Afrika und dem arabischen Raum von den sechziger bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Moskau, Prag, Ostberlin und Łódź studierte. Während des Kalten Krieges waren der afrikanische Kontinent und die arabische Welt aus vielerlei Gründen zwischen den beiden Supermächten umkämpft. Im strategischen Wettbewerb um Einfluss und Bündnispartner spielte auch die Kulturdiplomatie eine wichtige Rolle, und die weltpolitische Rivalität äußerte sich hier unter anderem in Form von Stipendien für Hochschulstudien sowie in dem Versuch, nationale Fachkräfteeliten auszubilden, die mit der jeweiligen Macht verwachsen bleiben sollten. So nutzte die Sowjetunion unter dem Titel der sozialistischen Völkerfreundschaft die Kanäle ihrer Kulturdiplomatie, um eine große Zahl von Studentinnen und Studenten an Universitäten in Moskau und anderen Städten des Ostblocks auszubilden.
Der kuratorische Anspruch von Saving Bruce Lee gründet auf Forschungen zu den Lebenswegen und Werdegängen afrikanischer und arabischer, am weltweit anerkannten Gerassimow- Institut für Kinematografie (VGIK) in Moskau ausgebildeter Filmemacher. Angesichts des spärlichen Archivmaterials versuchten wir, die Lehrjahre einiger Filmemacher anhand von Zeitzeugenberichten und Lebenserzählungen zu rekonstruieren. Wo immer möglich, haben wir die Gespräche aufgezeichnet, um den Einfluss der sowjetischen Lehrer auf das Werk der Schüler anschaulich zu machen und einen kritischen Zugang zum aktuellen Stand der Wissenschaft des afrikanischen und arabischen Films zu eröffnen. Die sowjetischen Lehrer waren sämtlich erfolgreiche Regisseure, unter ihnen einige so berühmte wie Sergei Gerassimow, Grigori Tschuchrai oder Roman Karmen, aber auch weniger bekannte mit international ausgezeichneten Werken, etwa Igor Talankin und Marlen Chuzijew. Auffällig ist, dass selbst die sowjetische Filmgeschichte und -theorie diese ausländischen Absolventen vollständig aus dem eigenen Filmkanon getilgt hat, obwohl einige der am meisten von der Kritik gelobten und weltweit anerkanntesten Regisseure des afrikanischen und des arabischen Films tatsächlich Absolventen des VGIK waren – etwa Souleymane Cissé (Mali), Abderrahmane Sissako (Mauretanien/Mali), Azzeddine Meddour (Algerien) und Mohammad Malas (Syrien), während andere weniger bekannt sind, wie Suliman Mohamed Ibrahim Elnour (Sudan), Nasser al-Tayyeb al-Mak (Sudan), Mohamed Abouelouakar (Marokko), Rabah Bouberras (Algerien), Hassen Bouabdellah (Algerien), Abdoulaye Ascofaré (Mali), Costa Diagne (Guinea), Daouda Keïta (Guinea), Kalifa Condé (Guinea) und Jean- Baptiste Elanga (Demokratische Republik Kongo).
Die historische Zeitspanne dieses Projekts beginnt mit den Umwälzungen der Entkolonialisierung und politischen Unabhängigkeit auf dem afrikanischen Kontinent und in der arabischen Welt. Sie endet mit oder nach den zumeist militärischen Umstürzen der siebziger und achtziger Jahre in diesen Ländern, die häufig in Bürgerkriegen und fast ausnahmslos in der Verhärtung selbst ernannter Demokratien oder Republiken zu Autokratien mit massiv eingeschränkter Meinungsfreiheit und politischer Mitsprache sowie in missachteten Bürgerrechten mündeten. Umgekehrt erlebte die Sowjetunion nach dem Stalinismus in den sechziger Jahren unter Chruschtschow eine Phase des „Tauwetters“ (Ottepel) und der politischen Liberalisierung. Diese Politik hielt sich jedoch nur kurze Zeit, und danach herrschte bis zum Einsetzen von Perestroika und Glasnost wieder die alte Intoleranz gegenüber Abweichungen von der Parteimeinung oder -linie. Angesichts dieser divergenten historischen Entwicklungen ist es nicht möglich, die Dekonstruktion der Filmsprachen, politischen Bekenntnisse und Lebenserfahrungen dieser Filmemacher in einer einzigen, weit gespannten Erzählung zusammenzufassen. Der Wandel der Verhältnisse prägte wesentlich das Los dieser Künstler und muss als solcher hervorgehoben werden.
Insbesondere unterscheiden sich die Lebenswege der ersten Studentengeneration aus den sechziger Jahren von denen der nachfolgenden, in den Siebzigern und Achtzigern am VGIK aufgenommenen Stipendiaten. Die erste Generation begeisterte sich für den Aufbau eines nationalen Films und musste in den meisten Fällen erst selbst die Voraussetzungen für eine öffentliche Filmproduktion in der Heimat schaffen. Die zweite Generation fand sich nach der Rückkehr aus Moskau in einer sehr schwierigen, nicht nur von schmerzhaft unzulänglichen Mitteln, sondern auch von feindseligen Behörden bestimmten Situation wieder. Für die dritte Generation war all das nur noch schlimmer. Mohammad Malas drehte seinen ersten Spielfilm Träume der Stadt (1983) erst mehrere Jahre nach seiner Rückkehr in die syrische Heimat, weil dieser Staat nicht mehr als eineinhalb Spielfilme im Jahr produzierte. Obwohl sein Film in aller Welt von der Kritik gelobt wurde, missbilligten ihn die syrischen Behörden. Ossama Mohammeds erster Spielfilm Sterne des Tages (1988), ebenfalls erst mehrere Jahre nach der Rückkehr aus Moskau gedreht, war in Syrien gleich nach der Uraufführung auf der Quinzaine des réalisateurs in Cannes verboten. Wie zuvor Sissako, Meddour, Abouelouakar oder Cissé, um nur wenige zu nennen, huldigten diese Regisseure in ihren Handlungen und Dramaturgien nicht dem Regime und leugneten auch nicht den realen Alltag ihrer Gesellschaft. Ihre Protagonisten sind Durchschnittsmenschen und heldenhaft nur in der Zähigkeit, mit der sie widrigen Umständen trotzen, auf ihrem Recht beharren oder für ein noch so bescheidenes Leben in Würde streiten. Diese Hauptfiguren beanspruchten nie den Thron, den Bruce Lee erobert hat.
Unsere Recherche zu Saving Bruce Lee setzte zwei Schwerpunkte. Einerseits interessierten wir uns für persönliche Erfahrungsberichte der VGIK- Absolventen über ihre Auseinandersetzung mit Moskau, mit dem Anderssein dort und mit der sowjetischen Gesellschaft. Es ging uns dabei um die jeweilige Gemengelage aus geistigen, affektiven und emotionalen Dispositionen, in der diese Künstler ihre Stimme nicht nur in einer fremden Sprache, sondern auch in einer ihnen ebenso fremden Filmsprache suchten. Andererseits wollten wir die Wirkungsweise der Lehre in ihrem sowjetischen Kontext verstehen. Inwieweit waren die utopischen Verheißungen des Sozialismus und der klar vorgegebene ideologische Rahmen mit der filmischen Vorstellung und persönlichen Stimme der Filmemacher vereinbar? Da etliche Absolventen des VGIK nach ihrer Rückkehr in der Heimat als allzu kritische und politisch widerspenstige Geister betrachtet wurden, suchten wir außerdem nach Spuren der Subversion und Kritik in der Lehre und in den Werken der sowjetischen Mentoren.
Saving Bruce Lee kam 2013 auf Einladung des Moskauer Garage Museum zustande. Anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten Hauses am Gorki-Park stellten wir die Ergebnisse unserer Recherche 2015 in Form einer bescheidenen Dokumentation und Archivausstellung vor. Diese Zusammenarbeit endete einige Monate später, doch nach unserer Begegnung mit Gabrielle Chomentowski, deren Beitrag zu dieser Fassung des Projekts unschätzbar wertvoll war, entschieden wir uns, dieses weiterzuverfolgen. Das gegenwärtige Projekt am Haus der Kulturen der Welt rückt Erlebnisse und Stimmen der VGIK-Absolventen Ossama Mohammed, Suliman Mohamed Ibrahim Elnour und Mohamed Abouelouakar in den Mittelpunkt. Wir haben die Genannten eingeladen, auf dem Podium und im Gespräch mit vertrauten Filmemachern von ihren Erfahrungen und Erinnerungen zu erzählen. Außerdem befassen wir uns mit dem Werk zweier weiterer VGIK-Regisseure, die nicht persönlich dabei sein können: Abderrahmane Sissako, der zurzeit an den Vorbereitungen für seinen nächsten Spielfilm arbeitet, und Costa Diagne, der 1996 verstarb. Beider Arbeit beleuchten wir anhand ihres Filmschaffens und besonders ihrer Moskauer Diplomfilme. Schließlich, aber sicher nicht zuletzt, danken wir dem Haus der Kulturen der Welt dafür, dass Saving Bruce Lee hier eine so lebendige und freundliche Aufnahme gefunden hat.
Koyo Kouoh und Rasha Salti (Kuratorinnen von Saving Bruce Lee)
Dieser Text stammt aus der Publikation Saving Bruce Lee – Afrikanischer und arabischer Film in Zeiten sowjetischer Kulturdiplomatie