Kersten Knipp: Es gilt das gesprochene Wort
Laudatio auf Mircea Cărtărescu und seine Übersetzer Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold für „Der Körper“
Sehr geehrte Damen und Herren,
an das Schicksal mögen wohl nur die wenigsten von uns glauben, aber gewisse Kräfte erscheinen uns bisweilen doch durchaus noch blind und launenhaft. Ein Erdbeben etwa – sicher auch jenes, das im März 1977 in Rumänien weite Landstriche zittern ließ. 52 Sekunden lang schüttelt der Boden sich, seine Zuckungen bringen über 10 000 Menschen den Tod. Die Stöße reichen bis nach Bukarest, im Stadtzentrum stürzen 35 ältere Gebäude ein, auch einige jüngere Bauten halten den Schwingungen nicht stand. Das Beben ist eine Tragödie – jedenfalls für die meisten Rumänen. Für Nicolae Ceaușescu aber ist es etwas anderes: eine Startvorlage zu einem wahnwitzigen, megalomanen Projekt. Das Beben mochte blind sein, aber dem Diktator ist es etwas anderes: eine wunderbare Gelegenheit, der Stadt ein neues Antlitz zu verschaffen, eines, das er für modern hält. Ein Fünftel der Stadtfläche gibt er zum Abriss frei. Über 100 000 Bauarbeiter werden in den folgenden Jahren dem historischen Stadtzentrum den Garaus machen: 10 000 Gebäude werden abgerissen, 70 000 Menschen vertrieben.
Die Stadt ist tödlich verwundet. Der Architekt Gheorghe Leahu hält die Szenerie in seinen Aufzeichnungen fest. "Der größte Teil von Bukarest ist ein einziges Schlachtfeld“, notiert er. Wolken von Staub schweben über der Stadt. Bewohner ruhiger Straßen und Wohnviertel in gutem Zustand werden morgens vom Lärm der Arbeiter geweckt, die mit dem Abriss der Dächer beginnen. Die persönlichen Sachen, die sich in einem Leben ansammeln, Möbel, Bücher, Bilder - alles wird in größter Eile weggeschafft. Oft bleibt kaum Zeit zur Räumung, oder es ist unmöglich, alles mitzunehmen. Man zählt mehr als ein Dutzend Selbstmorde, darunter ein Arzt, den Räumungskommandos erhängt in seinem Wohnzimmer vorfinden."
Meine Damen und Herren, es ist dies die Szenerie, vor der Mircea Cărtărescu seinen Roman „Der Körper“ spielen lässt. Aber was heißt hier „spielen“? Der Roman hat keine Handlung, jedenfalls keine nennenswerte – und genau das ist sicher eines der vielen Komplimente, die man ihm machen kann. Denn so ist er unabhängig von der Diktatur des Plots, einer Geschichte, deren Zwängen und Eigendynamik er sich zu unterwerfen hätte. Stattdessen äußert sich in ihm eine überschäumende Subjektivität, die kaum oder vielleicht sogar überhaupt nicht zu domestizierende Stimme des Erzählers – die aber eben darum, weil sie so subjektiv ist, weil sie sich in einer so ausufernden, schlingernden, mäanderen Form ergießt, mehr dokumentarischen Wert hat als jeder Roman, der sich in „klassischer“, auf eine ordentliche Geschichte setzender Manier an der zerstörten Stadt versuchen würde.
„Bukarest in den 1980er Jahren“, schreibt Karl Schlögel, der große Chronist des östlichen Europas, „war eine Stadt der Angst, eine Stadt der Securitate, eine Stadt, in der die Lichter ausgegangen waren.“ „Das Leben“, fährt er fort, „hatte sich nach innen verkrochen.“
Meine Damen und Herren, es ist wohl dieses Leben, das sich in Cărtărescus Roman artikuliert, ein verinnerlichtes Leben, das darum aber noch längst kein erloschenes ist – im Gegenteil, es vibriert und erzittert, es artikuliert und überschlägt sich auf jeder einzelnen Seite dieses Romans. Man hört, die Securitate lässt grüßen, eine nach innen gewandte Stimme, ohne allzu viele Ansprechpartner in der äußeren Welt. Und weil das so ist, vernehmen wir eine außergewöhnlich drängende, druckvolle, niemals ermüdende Stimme. Schon der Titel, „Korpul“, „Der Körper“, weist auf die Energie dieser Stimme hin. Denn der Körper, er gibt dieser Stimme Raum. Er bietet ihr ihre Bühne – und begrenzt diese Bühne doch zugleich. Ihn, den Körper, vermag diese Stimme kaum jemals zu überwinden, will das wohl auch nicht einmal. Denn sie wüsste: Das, was sie zu sagen hat, ist ohnehin kaum mitteilbar. Es sind Erinnerungen, Eindrücke, wilde Assoziationen. Ein unendliches Gespräch, ein Soliloquium artikuliert sich hier, und wenn der französische Philosoph Jacques Derrida einmal behauptet hat, der Körper suggeriere nur eine unmittelbare Präsenz, eine durch die Sprache bloß evozierte, aber nicht tatsächlich eingelöste Gegenwart, so will man dem beim Lesen von Cărtărescus Roman kaum folgen: So dicht, drängend und druckvoll ist die durch diesen und in diesem Körper zirkulierende Sprache, dass man sie partout als absolute, reine Gegenwart nehmen will.
Und genau das führt uns zur größten Tugend dieses Romans: Er hat einen ganz eigenen, unverwechselbaren Klang. Und es gibt, meine Damen und Herren, nicht allzu viele Romane, die wirkliche Sprachkunstwerk und Gedankenfeuer von solcher Kraft sind. Mircea Cărtărescu bietet auf diese Weise einen ganz eigenen Ton, einen Ton, den man so noch nie vernommen hat. Und für den man dankbar ist, weil er auf ganz eigene Weise den Katalog menschlicher Artikulationskunst erweitert. Sein Roman verweist wieder und wieder, Seite um Seite, auf die Sprache, in der er gehalten ist. Er lässt die Sprache als Sprache in den Vordergrund treten – und damit die Schönheit, die sie entfalten kann.
„Glühfäden des Geschmacks“; „der Sonnenwind meines Lebens ... mit seinem kapriziösen Fransenraum“; „mystische Synapsen und engelgleiche Axone“; Bukarests Panorama als ein „von Holländern gemalter Himmel“; „die Stimmritze wie ein Muschelfüßchen“: Es sind dies nur ein paar der Vergleiche und Metaphern, die dieses Buch durchziehen. Und die sich doch erst richtig entfalten dank der mal drängenden, mal – allerdings seltener – entspannt dahinfließenden Syntax, auf der Cărtărescu sie treiben lässt.
Sie ahnen schon, meine Damen und Herren: Cărtărescu könnte im Deutschen sehr leicht ein unauffälliger, ja vielleicht sogar blasser Dichter sein, wäre sein Werk nicht in die Hände jener beiden Übersetzer geraten, die es in jenen schillernden Farben leuchten lassen, in denen es uns entgegenschimmert. Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold: zwei Übersetzer, und doch viel mehr als Übersetzer. Zwei Sprachkünstler, die sich Cărtărescus Werk in Geist und Buchstaben auf das Nächstmögliche angenähert haben.
„Glühfäden des Geschmacks“, „Stimmritzen wie Muschelfüßchen“: darauf muss man auch in einer Übersetzung erst mal kommen, von den Schwierigkeiten, dieser halsbrecherischen Syntax gar nicht zu reden. Und so meine Damen und Herren, ehren wir heute gleich drei Sprachkünstler. Mircea Cărtărescu, Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold:
Ihnen allen herzlichen Glückwunsch zum Internationalen Literaturpreis 2012!
Berlin, Haus der Kulturen der Welt
6. Juni 20132