Konzerte
Brasilien
Von allen vier Länderschwerpunkten hat Brasilien zweifellos die reichste Musikkultur. Zahlreiche Stilistiken gingen vom flächengrößten Staat Südamerikas um die ganze Welt, wie Samba, Bossa Nova oder zuletzt die Partymusik der Favelas, Baile Funk. Gleichzeitig stellt fast jede Musik wie die Bevölkerung ein komplexes Komposit aus afrikanischen, europäischen und indigenen Elementen dar. Die Bewegung der Tropicalistas definierte sich in den siebziger Jahren explizit über einen allumfassenden aneignungsästhetischen „Kannibalismus“, der nicht zuletzt die afrikanischen Wurzeln der Musik offen legte und das Stichwort für den aktuellen, quer durch die Kontinente wildernden DJ-Sound namens „Tropical“ liefert.Ein solches Spektrum an Traditionen und Innovationen mit nur drei Projekten zu würdigen, stellte Kurator Arto Lindsay vor eine schier unmögliche Aufgabe. Er entschied sich für zwei Extreme und einen Newcomer. Siba e a Fuloresta + Beto Villares stehen dabei für die geschichtsträchtige Tanzmusik Maracatú, die in Brasilien trotz der freudigen Umarmung anglofoner Popmusik immer noch eine immense Bedeutung hat. „Nicht weil sie für eine angeblich heile Vergangenheit steht, sondern weil die Menschen einfach Freude daran haben“, wie Lindsay bemerkt. Die Musik von n–1 dagegen „könnte auch aus Deutschland, Argentinien oder Japan kommen, “denn sie befasst sich fast ausschließlich mit der eigenen Hardware: Speichermedien, Schaltkreise und mechanische Klangorganisation – Brasiliens Beitrag an eine globalisierte Elektro-Wissenschaft, die sich von lokalen Idiomen befreit hat, nicht aber von den sozialen Kontexten. Mit dem ersten Liveauftritt von Babe, Terror feiert das Festival schließlich eine Weltpremiere.
Siba e a Fuloresta + Beto Villares
Seine Wurzeln reichen bis in die Zeit vor Samba, ins vorkoloniale Angola und in den Kongo: Trotzdem erfüllt der Maracatú fast alle Anforderungen moderner Clubmusik. Standardisiertes, perkussives Instrumentarium, dicke Basstrommeln, einen MC („mestre“), der von der reinen Selbstanpreisung zum komplexen Storytelling wechseln kann, die Auflösung der Trennlinie von Performern und Publikum und die Ausdauer und Erfüllung, eine ganze Partynacht zu tragen. Maracatú verbindet europäische Musiktradition mit der Rhythmik und der oralen Kultur der afrikanischstämmigen Bevölkerung. Der Trommler und Sänger Siba Veloso lebte sieben Jahre in São Paulo, bevor er nach Pernambuco zurückkehrte und dort die traditionelle Band Fuloresta reaktivierte. Mit mehreren CD-Veröffentlichungen und Tourneen bringen sie ihre Musik auf Ohrenhöhe mit den Tropical-DJs der Gegenwart. Beto Villares, der die letzte LP der Band produziert hat, wird das Konzert subtil und in Echtzeit remixen.
www.myspace.com/sibaeafuloresta
n–1
Einer Loopmaschine, ob digital (Sampler, Synthesizer) oder analog (Bandschleifen, präparierte Plattenspieler), ist es egal, ob das Material aus der ersten oder siebten Welt kommt, von Magnetband oder Vinylschallplatte, found sound oder email. Das Set-up von Alexandre Sperandeo Fenerich und Giuliano Obici, gemeinsam n–1, ist ein lustvoll gegen die Hörgewohnheiten revoltierendes Informationsrelais, das Klang jeder Herkunft dekontextualisiert und in halb aleatorischen, halb organisierten Improvisationsprozessen re-kombiniert. Sie sind, wie ihre Einflüsse Kubrick, Russolo, Tati und Pierre Henry, Vertreter einer puren, kompromisslosen Form, und wenn die emsig repetitierenden Geräte während der Performance gefilmt und als close-up projiziert werden, wird deutlich, was sie meinen, wenn sie die Versenkung in das klangliche Potenzial des Mediums als oberste Maxime nennen.
Babe, Terror
Babe, Terror ist das Einmann-Projekt eines 28-jährigen Quereinsteigers aus São Paulo, und als solches noch nicht einmal ein ganzes Jahr alt. Es entstand aus dem inneren Verlangen, ohne Vorbildung Musik zu machen und tauchte direkt, ohne Ablenkung durch Traditionen oder Genres, in eine eigene Welt ein, die sozusagen nur auf ihren Erfinder gewartet hat. Sie wird erweckt durch mehrfach geschichtete, synchronisierte Aufnahmen seiner Stimme – eine Methode, die offenbar auf der ganzen Welt Vokalisten von Jamie Lidell über Michael Schiefel und Mark Boombastik bis Juana Molina herausfordert. Aber wenn Babe, Terror sein lyrisches Ich ins Spiegelkabinett wirft, ergibt sich ein ganz eigenes, unerhörtes Bild. Um seine komplexe Musik aufzuführen, spielt er in Berlin gemeinsam mit einem Live-Drummer aus Rio de Janeiro – eine Weltpremiere.
http://naturalismo.wordpress.com/2008/06/18/babe-terror/
Lineup: Arto Lindsay www.artolindsay.com