Konferenz: Liebe und Ethnologie
Mit Jan-Frederik Bandel, Ayrson Heráclito, Tiona Nekkia McClodden, Yesomi Umolu, Amilcar Packer, Adriana Schneider u. a.
Beide Tage inkl. Ausstellung 8€/5€
Hubert Fichte strebte in Schreiben und Leben nach einer spezifischen Art der Offenheit. Welche Körper, Institutionen und Erzählungen ermöglichen diese Öffnung? Internationale Autor*innen, Künstler*innen und Kurator*innen diskutieren Export und Appropriation, Trance und Wissen, Ethnologie und ästhetischen Kolonialismus – begleitet von Hubert Fichtes und Leonore Maus Fotofilmen, u. a. Der Tag eines unständigen Hafenarbeiters (1966) und Zwei mal 45 Bilder/Sätze über Agadir (1971).
Tag 1 | Tag 2
14h
Der Tag eines unständigen Hafenarbeiters
R: Hubert Fichte/Leonore Mau, DE 1966, 16 min, OmE
Film
14.20h
Das Zerbrechen des Bewusstseins: Politik und Trance
Mit Nina Graeff, Ayrson Heráclito, Tiona Nekkia McClodden, Amilcar Packer
Gespräch moderiert von Paz Guevara
Auf Englisch und Portugiesisch mit Simultanübersetzung ins Englische
Vor allem zu Beginn seiner Süd- und Mittelamerikareisen begreift Fichte die afro-diasporischen religiösen Praktiken – obwohl bereits fasziniert – klassisch marxistisch als eskapistisch: Sie stellen die Unterworfenen ruhig und verhindern eine Politisierung. Später erkennt auch er, dass es sich nicht zuletzt um eine Kultur des Widerstands handelt, die gerade darin immense Erfolge aufweisen kann. Aber auch wenn Fichte nun den Unterschied zwischen einer Religion des Glaubens und einer des Handelns und des Rituals erkennt und in Jahren der Recherche immer vertrauter mit dem rituellen Handeln wird, bleibt er ein Außenstehender – nicht zuletzt deswegen, weil er glaubt, als Initiierter nicht mehr von den Ritualen berichten zu können. Vor diesem Hintergrund geht es dem Panel um die Politik des Selbstverlusts in der Trance, und die Reflexion des Verhältnisses und der Grenzen von ritueller, investigativer und künstlerischer Praxis.
Candomblé wird weniger mündlich als körperlich überliefert; weniger durch einen kundtuenden Mund als durch Körper, die in Bewegung zu einem Kollektiv werden. Der Widerstand und die Bewahrung der afro-diasporischen Kultur des Candomblé erfolgt durch deren Ausübung im Alltag sowie in mythischen Ritualen, die u. a. die Trance als Eingliederung des Göttlichen miteinbeziehen. Nina Graeff geht in ihrem Beitrag darauf ein, wie im transkulturellen Kontext eines Candomblé-Hauses in Berlin der Körper als Artikulator sowohl des Glaubens und der Liebe als auch von Differenzen und Künsten fungieren kann.
Was waren die ethnopoetischen Spannungen im „Schwarzen Rom“ Südamerikas – wie man den brasilianischen Staat Bahia auch genannt hat? Anhand der Texte, die der deutsche Autor Hubert Fichte während seiner Aufenthalte in Salvador da Bahia zwischen 1970 und 1972 geschrieben hat, diskutiert Ayrson Heráclito den Einfluss von Fichtes Werk auf das künstlerische und kulturelle Leben vor Ort.
Tiona Nekkia McClodden spricht über ihren autoethnografischen Ansatz bei der Erstellung ihrer mehrteiligen Arbeiten, die um den Orisha Shango/Chango/Xango und das Verhältnis zu ihrer Praxis als Priesterin von Ogun kreisen. Ausführlich stellt sie ihre Mehrkanal-Installation I prayed to the wrong god for you (2019) vor.
Anhand der Fragen, die das Projekt Implosão: Trans(relacion)ando Hubert Fichte in Brasilien geleitet haben, reformuliert Amilcar Packer Übersetzungsprozesse als eine Vermittlung zwischen Welten. In Brasilien, wie in vielen anderen ehemaligen Kolonien und postkolonialen Kontexten, war Spiritualität schon immer in kulturelle und politische Positionen des Widerstands verwickelt. Packer liest Fichtes ethnozentrische Perspektiven und Choreografien gegen den Strich und entfaltet in seinem Vortrag stattdessen eine Vorstellung von Politik als Ort ontologischer Konflikte. Er zeigt mögliche Trans(re)lationen auf, in denen sich Kunst, Politik und Spiritualität überschneiden.
16.30h
Der Fischmarkt und die Fische
R: Hubert Fichte/Leonore Mau, DE 1968 (9 min), OmE
Film
16.40h
Abgrund der Ethnologie
Mit Jürgen Bock, Rosa Eidelpes, Adriana Schneider, Yesomi Umolu
Gespräch moderiert von Anselm Franke
Auf Englisch
Die Ethnologie hat vor allem durch ihr koloniales Erbe einen schweren Stand in der Gegenwart. Und doch verfügt sie als „Gegenwissenschaft“ über ein radikales Kritikpotenzial, weil sie an die Abgründe rührt, an denen eigene Kategorien der Welterfassung unterlaufen werden. Der Schriftsteller Hubert Fichte suchte die Auseinandersetzung mit der Ethnologie, praktizierte Literatur als Ethnologie und suchte zeitweise auch deren Anerkennung. Dabei begegnete er der Disziplin mit einer kritischen Polemik: ethnografische Beschreibungen litten ihm zufolge typischerweise unter der unkritischen Fusion von Beschreibung und Gegenstand, Repräsentation und Repräsentiertem. Die Lücke, die beide unweigerlich trennt, sollte bei ihm zum Schauplatz einer selbstreflexiven, investigativ-freilegenden Poetik werden, er bestand darauf, das eigene Begehren und Fühlen in die Beschreibung einzuschreiben. „Ist es eine Schande, einzugestehen, dass man über Wolof forscht, weil man schwul ist?“
„Seine Welt als Thema: Hubert Fichtes Cruise in Portugal“: Durch das Lesen oder Umschreiben von Teilen von Hubert Fichtes Roman Eine glückliche Liebe (1984), basierend auf dem Aufenthalt Fichtes in Portugal in den 1960er Jahren, wird sich Jürgen Bock mit Vorstellungen von Ethnologie, schwuler Kultur und Geschichte auseinandersetzen.
Hubert Fichtes ethnobotanische Forschungen, die von ihm angelegten umfangreichen Herbarien und die Aufsätze, die er in Fachzeitschriften wie Ethnobotanik und Curare veröffentlichte, offenbaren seinen Wunsch, sich in den wissenschaftlichen ethnologischen Diskurs einzuschreiben. 1980 plädierte sein wissenschaftlicher Mentor Joachim Sterly dafür, Fichtes erstes Buch über afroamerikanische Religionen, Xango (1976), als Promotionsschrift an der Universität Bremen zuzulassen. Gleichzeitig distanzierte sich Fichte immer wieder von akademischen ethnologischen Ansätzen. Rosa Eidelpes Vortrag situiert und diskutiert Fichtes Arbeiten – insbesondere sein Interesse an Trance und halluzinogenen Pflanzen – innerhalb des Feldes der zeitgenössischen deutschen Ethnologie.
Alle 23 Minuten wird in Brasilien ein junger schwarzer Mann ermordet. Adriana Schneider Alcure, Mitglied des Coletivo Bonabando, fragt in ihrer Präsentation mit dem Titel „KANN DENN NIEMAND ÜBER UNS REDEN?“: Zur De-Fetischisierung von Hubert Fichte: Wie kommt man aus diesem Abgrund heraus, wenn man sich schon im freien Fall befindet? Wie schafft man den Sprung über den Abgrund? Mit der Umkehrung der Logik der ethnografischen Hierarchie wurde der Versuch unternommen, eine Gegenposition zur Fetischisierung des Schwarzen Körpers in den Texten Hubert Fichtes aufzubauen. Im Entstehungs- und Produktionsprozess der von Coletivo Bonobando für die aktuelle Ausstellung geschaffenen Werke kristallisierte sich heraus, dass dem Verhältnis von Komik und Politik eine Schlüsselrolle bei der Erzeugung von Spannungen zwischen Mikro- und Makropolitik zukommt. Die im kreativen Arbeitsprozess der Gruppe entwickelten Verfahren könnten dabei helfen, Diskussionen über Kunst, Politik und Ethnografie zu aktualisieren und zu erweitern.
Ausgehend von einer Betrachtung ihrer eigenen kuratorischen Forschungsarbeiten und Projekte reflektiert Yesomi Umolu über zeitgenössische künstlerische Ansätze, die auf eine Auflösung überkommener ethnografischer Methodologien, Geschichten und Perspektiven abzielen.
18.45h
Zwei mal 45 Bilder/Sätze aus Agadir
R: Hubert Fichte/Leonore Mau, DE 1971, 11 min, OmE
Film
19h
Ästhetik des Faktischen: Poesie und Journalismus
Mit Jan-Frederik Bandel, Philipp Gufler, Max Jorge Hinderer Cruz, Karin Krauthausen, Anne Schülke
Gespräch moderiert von Diedrich Diederichsen
Auf Deutsch mit Simultanübersetzung ins Englische
Gegen das Ausgedachte, Herbeifantasierte, das ihn an neo-sensibler zeitgenössischer Literatur der 1970er Jahre so störte, ebenso gegen die männlich-heterosexuelle, unzärtliche Unempfindlichkeit deutscher Realisten fand Fichte einen Verbündeten in einer „Ästhetik des Faktischen“. Diese entdeckte er im Journalismus, oder zumindest seiner idealen Form eines der Genauigkeit von Recherche und Berichterstattung verpflichteten Schreibens, aber ebenso beim Gossip und dem ungeschützten Reden der Leute. Auch bei dessen Aufzeichnung halfen Techniken und Medien des Journalismus: das ausführliche Interview und der Cassettenrecorder – sei es um den Klatsch in der senegalesischen Psychiatrie nachzuzeichnen, Politiker wie Salvador Allende oder Léopold Sédar Senghor zu interviewen oder um aus ausführlichen Interviews mit Hamburger Sexarbeiter*innen eine Ethnografie der deutschen Sex-Industrie zu entwickeln.
Indem sie Hubert Fichte immer wieder die Rolle eines Grenzgängers (zwischen Fiction und Nonfiction, Roman und Autobiografie, Literatur und Journalismus/Ethnografie usw.) zugeschrieben hat, hat gerade die affirmative Fichte-Rezeption die bestimmende Macht dieser Grenzen bestätigt. Nicht zuletzt mit Blick auf die Lektionen Fichtes für gegenwärtige Praktiken scheint es an der Zeit, die Diskrepanzen und Bewegungen, die sein Schreiben bestimmen, unabhängig von solchen territorialen Zuschreibungen nachzuverfolgen, so Jan- Frederik Bandel in seinem Beitrag.
In Anlehnung an Hubert Fichte setzt sich Philipp Gufler in seinem Künstlerbuch Indirekte Berührung (2017) mit den Begriffen der uneigentlichen Sprache, mit Gossip und Imitationen auseinander.
Die Frage nach dem Verhältnis von Journalismus, Poesie und Faktizität ist auch die Frage nach dem Umgang mit dem Gehörten und Erfragten, dem medial Aufgezeichneten, kurz: der direkten Rede. Was passiert bei diesem Transfer, fragt Karin Krauthausen in ihrem Beitrag. Es sind literarische, poetische, rhetorische Techniken, die die Rede in der Schrift zum Sprechen bringen. Im Falle von Hubert Fichte sind es versierte Fiktionen der Rede, die Bewusstsein erweitern und für Wirklichkeiten öffnen, andere Wirklichkeiten.
Anne Schülke kommentiert Hubert Fichtes Praktiken im Anschluss an Trinh T. Minh-has feministische und postkoloniale Perspektive.
Mit seinen wiederholten Reisen nach Brasilien vollzieht Hubert Fichte einen Wandel sowohl in seiner Blickweise auf Brasilien als auch in seiner Ästhetik: von einer „Ästhetik der Fakten“ zu einer „Ästhetik des Faktischen“. Faktisch sind Gegenstände der Betrachtung nicht, weil sie als Fakten betrachtet werden, sondern weil sie in Bezug auf Fakten betrachtet werden. Das macht den Gegenstand des Faktischen in doppelter Hinsicht interessant: zum einen, weil er „empfindlich“ ist, zum anderen, weil er heikel ist, wie Max Jorge Hinderer Cruz argumentiert.
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