Konferenz
Kosmische Motive in der frühsowjetischen Kultur
Vorträge & Gespräch mit Robert Bird, Maria Chehonadskih, Svetlana Cheloukhina, moderiert von Anne Luther
Robert Bird:
Wie behält der Kommunismus die Oberhand? Arbeit, Energie und Modelle des Kosmos im sowjetischen Film
Unter Stalin wich der radikale Kosmismus der 1920er Jahre vorsichtigeren Entwürfen einer Welt der überwundenen Naturgesetze, die Maxim Gorki als „zweite Natur“ und Nikolai Bucharin als „Technologierevolution“ bezeichnete. In zahlreichen Disziplinen verlegte sich der sowjetische Diskurs auf die Modellierung von Mechanismen, die Grenzen der klassischen Mechanik und physischen Arbeit sprengen sollten. Anhand von Filmen wie Cosmic Voyage erörtert Bird, wie sowjetische Künstler*innen auf dem Gebiet des sozialistischen Realismus mit maßstabsgetreuen Modellen arbeiteten und dabei die Möglichkeiten und Grenzen des Modellierens selbst ausloteten. Thema des Vortrags sind auch spätere Modellierungen in so verschiedenen Bereichen wie der sowjetischen Kybernetik, der Semiotik und der Installationskunst (von Francisco Infante-Arana, Ilja Kabakow und anderen).
Robert Bird ist Professor für Slawische Sprachen und Literaturen sowie Film- und Medienwissenschaften an der University of Chicago. Sein Forschungsschwerpunkt ist die ästhetische Praxis und Theorie der russisch-sowjetischen Moderne, insbesondere im Bereich Film und Videokunst. Zurzeit arbeitet er an seinem Buch Soul Machine: How Soviet Film Modeled Socialism. Bird ist Co-Kurator der Ausstellung Revolution Every Day (September 2017) zur sowjetischen Druckgrafik und Filmkunst am Smart Museum of Art der University of Chicago. Sein Folgeprojekt Revolutionology widmet sich geistiger/intellektuellerRevolution in verschiedensten Medien, Räumen und historischen Zeitpunkten.
Maria Chehonadskih:
Die Stofflichkeit des Universums: Alexander Bogdanow und die sowjetische Avantgarde
Die sowjetische Avantgarde führte einige ineinandergreifende, aber widersprüchliche Begriffe ein, darunter Konstruktion, Tektonik, Produktion, Lebensmontage und Lebensaufbau. Diese Begriffe bezogen sich gewöhnlich auf die Attribute formeller künstlerischer Methoden oder auf eine konstruktivistische Gesellschaftstheorie. Für Verwirrung sorgt heute allerdings, dass sie ideengeschichtlich oft falsch hergeleitet werden. Chehonadskih betont in diesem Vortrag die Tradition des Empirio-Marxismus und der Philosophie von Alexander Bogdanow, insbesondere die Organisationstheorien von Bogdanow und Andrej Platonow. Sie erörtert die Begriffe „Weschtschestwo“ (Stoff oder Stofflichkeit) und Lebensaufbau und zeigt, wie ausgehend von diesen eine operationale Logik der Trennung und Verbindung von Elementen im Universum zu Komplexen und Körpern geschaffen wurde. Innerhalb dieser Lebensbau-Komplexe nimmt das Ordnen der Wahrnehmung die Mittel einer Kunst an, die nicht nur ihre eigenen Formen, sondern auch die Form sozialen Daseins verändert. Als Ordnungsprinzip von Dingen, Beziehungen und Menschen ersetzt diese Kultur des Stofflichen am Ende den Kunstbegriff.
Svetlana Cheloukhina:
Den Tod abschaffen: Nikolai Sabolozkis naturphilosophische Dichtung und der Russische Kosmismus
Nikolai Sabolozki (1903-1958) war nicht nur Mitglied der russischen Avantgarde-Gruppe OBERIU, sondern auch Schöpfer einer eigenen Naturphilosophie. In deren Zentrum steht der Begriff der Metamorphosen: der unendlichen Verwandlungen auf atomarer Ebene vom Stofflichen zum Seelischen (Geistigen) – und umgekehrt. Sabolozki glaubte, dass es Arten von Materie gebe, die in der Entwicklung der Natur hin zur Einheit der Lebenden und der Toten eine herausragende Rolle spielten und der Menschheit als Trägerin eines „natürlichen Bewusstseins“ angehörten. So kommen Menschen nach Sabolozki als Folge fortgesetzter antagonistischer Verwandlungen zur Welt. Sie stellen die höchste Stufe natürlicher Entwicklungen dar und müssen deshalb Verantwortung für die Transformation übernehmen. Sabolozki war fest davon überzeugt, dass die Aufhebung der Widersprüche in der Natur zur Befreiung des Geistes – und schließlich auch zur Unsterblichkeit des Menschen – führen werde.
Svetlana Cheloukhina ist Associate Professor und Koordinatorin des Russian Program am Queens College, City University of New York. Ihr Studium und Promotion schloss sie an der University of Toronto ab. In ihrer Forschung konzentriert sie sich auf die literarische Moderne, den Akmeismus und die Avantgarde in Russland sowie auf die Kulturgeschichte des nördlichen Kaukasus. Nach dem Buch The Poetic Universe of Nikolai Zabolotsky (2006) über den Dichter und Übersetzer schließt sie zurzeit einen Band über den Dichter und Schriftsteller Michail Zenkewitsch ab. Sie hat umfangreich zur russischen Literatur, ikonografischen Kultur und altchristlichen Religion publiziert. Sie lehrt russische Sprache, Literatur und Kultur sowie Film auf verschiedensten Ebenen und mit vielfältigen inhaltlichen Schwerpunkten.
Anne Luther hat 2016 ihren PhD am Central Saint Martins College of Art and Design in London erworben und ist zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Kunstgeschichte der Moderne des Instituts für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der Technischen Universität Berlin, sowie Forschungsassistentin am Center for Data Arts der New School in New York. Sie war von 2014 bis 2017 Assistentin von Boris Groys an der New York University. In ihrer interdisziplinären Forschungsarbeit untersucht sie ausgehend von Kulturwissenschaften, Ethnografie und Kunsttheorie Computerwissenschaften, Informationstechnologie und Design.