Nachkriegslandschaften

Mit Karrabing Film Collective, Shahram Khosravi, Samuel Merrill und Rania Stephan

Fr 15.9.2017
Auditorium
21–23h
Tagesticket: 6€/4€

In Kriegs- und Nachkriegslandschaften wirkt die Eisenbahn als Matrix gegenläufiger Bewegungen: Einerseits ist sie Sammelpunkt und Verbindung, anderseits trennt sie, verstreut die Menschen über weite Räume. Diese Bewegungen werden zu unfreiwilligen Belegen unterschiedlicher Geschichten: Sie erzählen von indigenen Frauen und Männern in Australien während des Zweiten Weltkriegs, von (Über-)Lebensformen im Libanesischen Bürgerkrieg in den 1970er und 1980er Jahren, von den West- und Ost-Berliner*innen, die sich im Kalten Krieg ein Eisenbahnnetz teilten, und vom Sommer 2015, als vor dem Krieg Fliehende entlang der Schienen in Europa eine Zuflucht zu finden hofften.

Karrabing Film Collective
Night Time Go
Film, 30 Min., Englisch, 2017

Am 19. September 1943 floh eine Gruppe von Karrabing-Vorfahren aus einem Kriegsinternierungslager. 300 Kilometer legten sie zu Fuß zurück, bis sie ihre Heimat an der Küste der Northern Territory in Australien wieder erreichten. Night Time Go thematisiert, wie die Siedler*innen des Staats während des Zweiten Weltkriegs versuchen, die indigene Bevölkerung mit LKW, per Bahn und mit Waffengewalt aus ihrem Land zu vertreiben. Doch Die Karrabing-Vorfahren wehrten sich gegen die Internierung. Der Film hält sich zunächst eng an die historischen Details dieser Reise der Vorfahren, wendet sich aber bald zu einer alternativen Erzählung, in der die Gruppe der geflohenen Gefangenen die indigene Bevölkerung zum Aufstand aufruft und die Siedler*innen von der Nordspitze Australiens verjagt. In einer Mischung aus Drama, Humor, Historie und Satire führt Night Time Go die Geschichte der Subalternen weit über die Grenzen des Siedler-Eigentums hinaus.

Shahram Khosravi
Along the Rails with Travelers without Papers
Vortrag

Ein paradigmatisches Bild unserer Zeit sind vor dem Krieg Flüchtende aus Syrien, Irak, Palästina und anderen Ländern, die an Bahngleisen entlang laufen, um Zuflucht in Europa zu suchen. Sie haben ihre eigenen Strategien entwickelt, um ein wenig Sicherheit in ihr unsicheres Leben zu bringen. In der Außenwahrnehmung allerdings stören sie die klare Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum: Durch sie werden Bahnhöfe zu Schlafsälen und Bahnsteige zu Wohnzimmern, sie nutzen Schienen zur Fortbewegung, obwohl sie doch eigentlich an Ort und Stelle bleiben sollen. Einerseits die unerwünschten Mobilität und andererseits die Mobilität, die sie sich wünschen und die sich in Eisenbahnstrecken manifestiert – sei es als Infrastruktur für grenzüberschreitende Verbindungen im Rahmen der europäischen Integration oder als Teil des kolonialistischen Traums an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, von der Verbindung zwischen Berlin und den Ölfeldern im Persischen Golf. Diese Gegenüberstellung produziert ein zur aktuellen Weltlage passendes Narrativ, das Grenzüberschreitungen gleichzeitig fördert und für illegal erklärt.

Samuel Merrill
Ghost Stations
Vortrag

In seinem 1982 erschienenen Essay Stadtmitte umsteigen nimmt der Autor und Kolumnist Heinz Knobloch seine Leser mit auf einen Spaziergang in die Erinnerung – durch einen Tunnel, der die zwei Berliner „Stadtmitte“ genannten U-Bahnhöfe der damals geteilten Stadt miteinander verbindet. Knobloch führt seine Leser vom belebten Halt auf der einen Seite des Tunnels zum unbelebten „Geisterbahnhof“ auf der anderen. Dieser Vortrag unternimmt seine eigenen Gedächtnis-Ausgrabungen früherer und gegenwärtiger Geisterbahnhöfe: in ihrer Funktion als Embleme einer zerrissenen und später wiedervereinigten Stadt – am Beispiel der Stationen Jannowitzbrücke und Potsdamer Platz – ebenso wie in Erinnerung an Geschichten aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, die die Stadt noch heute verfolgen, einschließlich der Spuren der Phantomlinie U10. Diese (einst) ruhenden Orte inmitten weit größerer Bahnlandschaften öffnen den Zugang zu anderen vergrabenen Erinnerungen, die uns ermutigen zu fragen, welche latenten Erinnerungen die Infrastrukturen unter unseren Füßen bergen.

Rania Stephan
Train-Trains: Where’s the Track?
Film, 30 Min., OmeU, 1999

Die ersten Schienen für die Verbindung der libanesischen Eisenbahn von Beirut nach Damaskus verlegten 1896 die Franzosen. Heute fährt hier jedoch kein Zug mehr. Rania Stephans Film dokumentiert ihre persönliche Suche und ist gleichzeitig Dokument einer Expedition zu den Bahnhöfen der aufgegebenen Verbindung und vorgeschobener Grund, nach dem Ende des Bürgerkriegs die Verbindung zur Landschaft der Region neu zu knüpfen. Die Erinnerungen an die Vergangenheit basieren auf Auszügen aus libanesischen und internationalen Filmen, darunter Safar Barlik, Shanghai-Express, Duell in der Sonne und Manche mögen’s heiß. Die Gegenwart präsentiert sich in einer Mischung aus Hektik in der Nähe einer belebten Verkehrsader, die sich quer durch den Libanon zieht, und der Realität nicht mehr genutzter Gleise und Bahnhöfe, die zu Ruinen verfallen. „Früher war alles besser“, sagt ein Zeitzeuge träumerisch. In den Erinnerungen an die Züge, die hier einst fuhren, rekonstruieren Rania Stephan und ihre Gesprächspartner*innen die Vergangenheit auf je eigene Art.

Teil von After the Wildly Improbable kuratiert von Adania Shibli