ALLES MUSS RAUS – Dinge und Wesen verlassen das Archiv

Mobile Akademie Berlin

Sind wir es, die vergessen werden? Oder sind wir es, die vergessen werden?
Im postrevolutionären Museum verlassen die stillgestellten Dinge und Wesen aus kolonialen Kontexten endlich ihre europäischen Wartesäle. In mehreren Modellvorschlägen verfolgt die Mobile Akademie Berlin den anstehenden Prozess der Räumung musealer Archive und testet die Option des leeren Museums. Archivophage Praktiken für eine nicht objektzentrierte ars memoria werden vorgestellt, praktische Übungen bieten Anleitung zur Eingewöhnung in die kommende Leere.

Die Triage. Verfahren zur Entleerung der europäischen Archive und Museen

Die Triage. Objekt 187: Dodo, Video, 25 min, 2022

Das Museum für Naturkunde Berlin digitalisiert gegenwärtig seinen gesamten Bestand: 30 Millionen Objekte. Im 2021 neu eingerichteten Bureau du Triage des Objets (Objektprüfstelle) entscheidet ein dreiköpfiges Tribunal, ob die physischen Originale

  • in den Archiven und Museen verbleiben
  • neu kontextualisiert werden
  • unverzüglich vernichtet werden müssen

Es argumentieren: der Direktor eines Naturkundemuseums, die Kuratorin eines Museums der Weltkulturen und eine Theoretikerin des postrevolutionären Museums.

Béhanzin

Béhanzin, Video, 2 min, 2022

Die fortschreitende Digitalisierung der Bestände schafft keinen Platz, nur eine millionenfache digitale Verdopplung der Objekte. Die physischen Originale verbleiben in Wartestellung, während ihre digitalen Dubletten Teil riesiger, energiefressender Datenarchive werden, die den Sammelwahn ins Digitale ausweiten und keine neuen Narrationen entwerfen. Die Mobile Akademie Berlin arbeitet im Forschungsverbund „New Digital Narratives“ an der Unterwanderung europäischer Filmarchive durch die digitalen Duplikate musealer Artefakte. Nach ihrer anstehenden Rückgabe an die Republik Benin wird die Statue des Königs Béhanzin (derzeit ausgestellt im Musée du quai Branly in Paris) in den Film Playtime von Jacques Tati (1968) eingeschleust.

Objektwerdung. Angeleitete Übung mit einer Leichendarstellerin: Teil 1 & Teil 2

Teil 1 Objektwerdung, Video, 8 min, 2013/ 2022
Teil 2 Konzert, 30 min, 26.03.2022

Sammelwahn und Objektophilie verweisen auf eine europäische Scheißangst vor dem Tod und der finalen Objektwerdung als europäischer Leichnam ohne Jenseits. In diesem Video bietet Susanne Sachsse Museumsbesucher*innen eine vorbereitende Übung zur Objektwerdung an.

Der zweite Teil ist eine forensische Meditation, sie wurde von der schwedischen Black Metal Band Death, Destruction & Dodos vertont und am 26. März im HKW aufgeführt.

The Whole Life, told by one person

Video, 180 min, 2022
Der Erzähler: Arjun Appadurai. Die Zuhörerin: Antonia Alampi

Welche Geschichten und wessen Geschichte wird man im leeren Museum der Zukunft hören? The Whole Life, told by one person ist eine biographische Versuchsanordnung, die die Mobile Akademie Berlin seit 2004 in unregelmäßigen Abständen dokumentiert. In einer Live Performance vor Publikum versucht eine Person in 3-4 Stunden einer Zuhörer*in ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen. Es gibt kaum dramaturgische Vorgaben, chronologisches Erzählen ist nur eine mögliche Wahl der Systematisierung, kartografische Aufsichten und punktgenaue Tiefenbohrungen sind ebenso willkommen wie Schweigen. Die Zuhörer*in ist keine Interviewerin, sie folgt der Erzählung mit gleichschwebender Aufmerksamkeit. Die Aufzeichnung wird ungeschnitten archiviert, verfügbar in der HKW Mediathek.

Der Schredder

Performance und Konzert, 90 min, 2022
26.03.2022, 20h
Mit Markus Öhrn with Death, Destruction & Dodos

Es rattert, es zermalmt, es schmatzt. Der Schredder ist ein Darm mit Zähnen, der die Archive entsorgt: Inkorporierung, Metabolisierung, Übergang. Der Schredder bietet eine öffentliche Übung des Verlusts, die alle Bestände und Diskurse des Archivs infiziert. Die Berliner Bevölkerung macht es vor, sie bringt ihre Erinnerungsstücke ins HKW und übergibt sie in einer kollektiven Zeremonie dem Schredder. Wir inszenieren den öffentlichen Klagegesang mit der zeitgenössischen Form des Requiems – Black Metal. Seinen endgültigen Bestimmungsort wird der Schredder im Lustgarten zwischen Altem Museum und Humboldtforum finden. Wir versammeln uns zum öffentlichen Lamento und feiern eine nicht objektbasierte Erinnerungskultur.

Die Triage. Objekt 187: Dodo, Video, 25 min, 2022
Béhanzin, Video, 2 min, 2022
Objektwerdung, Video, 8 min, 2013/ 2022
The Whole Life, told by one person, 240 min, 2022
Der Schredder mit Markus Öhrn with Death, Destruction & Dodos, Performance und Konzert, 90 min, 2022

Credits

Konzept & Script: Hannah Hurtzig und Marian Kaiser
Szenografie: Florian Stirnemann
Zeremonie & Konzert Markus Öhrn with Death, Destruction & Dodos

Mit: Antonia Alampi, Arjun Appadurai, Bettina Blickwede, Alisha und Jahmila Bronnert, Alice Chauchat, Monir El-Helwe, Haytham El Wardany, Assaf Gruber, Michael Horn, Susanne Kahl, Miriam Kassens, Benjamin Krieg, Brigitte Kramer, Jelena Kuljic-Knauer, Ingo Kopmann, Tina Pfurr, Hendrik Quast, Simon Roloff, Susanne Sachsse, Benjamin Scabell, Ginan Seidl, Promona Sengupta, Cedrick Tshimbalanga, David Shongo, Christiane Wessely