Kuratorisches Statement
The Missed Seminar ist eine archiv-basierte Ausstellung, die mit der Ton- und Videoinstallation End Credits des Künstlers und Filmemachers Steve McQueen in Dialog gesetzt wird. Ausgehend vom Leben der Schwarzen Anthropologin, antikolonialen Schriftstellerin, Weltreisenden und afroamerikanischen Fotografin Eslanda „Essie“ Goode Robeson und ihren Freundschaften in die DDR, versteht sich diese Korrespondenz als ein dynamischer Zugang, der ein Zurückkehren zu jenen latenten Kenntnissen und Wissen erlaubt, das sich dem globalen rassifizierten Kapitalismus verweigert. Konzipiert als situierte Lesart transkontinentaler Praktiken des Welterschaffens, welche die extreme Binarität des Kalten Krieges sowohl offenbaren als auch verwerfen, ist The Missed Seminar keine historische Konstruktion der Vermächtnisse von Eslanda Robeson, sondern eine zeitlich nicht-lineare bzw. chronopolitische Verarbeitung von Archivmaterialien – Bilder, Manuskripte, Dokumente und Filme –, aus denen die Furchtlosigkeit, die Liebe und der Kampf eines „antiphonischen Lebens“ (Shana L. Redmond) sprechen, das in der Gegenwart widerhallt. Der Form nach handelt es sich also eher um ein Studium als eine Dokumentation. Damit ist es ein Versuch, Methoden zu entwickeln, die Eslanda Robesons Praktiken des Antifaschismus, Antikolonialismus, Schwarzen Feminismus und Kommunismus mit den Mitteln der Fotografie, des Films und der Technopolitiken, welche unter dem staatlichen Druck globaler Kriegspolitik stehen, miteinander verflechten. Es ist ein Vorschlag für ein Seminar, das nicht stattgefunden hat, das versäumt wurde oder von dem es keine Aufzeichnung gibt, an dem aber Studierende gern teilgenommen hätten, die sich für eine intersektionale Praxis der Kritik, des Widerstands und der Imagination im Kampf gegen Faschismus, Kolonialismus und Antisemitismus interessieren. In Form von unabgeschlossenen Gesprächen, macht The Missed Seminar einen unterdrückten, intersektionalen Kommunismus wieder vorstellbar, indem die Geopolitiken aus der Erinnerung wiedererweckt und in eine Gegenwart versetzt werden, die noch immer unter dem Gewicht der Nachwirkungen verschiedener imperialer Weltaufteilungen leidet – einschließlich jener des Kalten Kriegs.
End Credits von Steve McQueen zeigt 12 Stunden und 54 Minuten lang das langsame Scrollen über tausende digitalisierter FBI-Akten auf Großleinwand: Aktenzeichen, Daten, Registriercodes, von denen einige stark bearbeitet oder geschwärzt wurden, sowie 67 Stunden 4 Minuten und 43 Sekunden asynchrone Tonaufnahmen, in denen die Berichte der FBI-Informant*innen vorgelesen werden. Gezeigt wird die Installation im Auditorium des Haus der Kulturen der Welt, der 1957 erbauten ehemaligen Kongresshalle, einer Kalten-Kriegs-Architektur par excellence. Die Arbeit ist ein eindringliches Zeugnis der staatlichen Überwachung und Hetzkampagnen der US-Regierung gegen Eslanda Robeson und ihren Ehemann den berühmten Sänger, Schauspieler, Anwalt und Sozialaktivisten Paul Robeson. Während die beiden zwischen 1950 und 1958 mit einem Reise- und Arbeitsverbot außerhalb der USA belegt waren, wurden sie in den kommunistischen und blockfreien Ländern der Welt unterstützt und gefeiert. Die zeitliche Exorbitanz von End Credits enthüllt die Pathologie des antikommunistischen Hasses der USA, durch den die grundlegenden Menschenrechte von Paul und Eslanda Robeson verletzt wurden, und veranschaulicht zugleich deren lebenslangen Kampf für Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit in den Gesprächen mit Freund*innen panafrikanischer, gewerkschaftlicher und kommunistischer Allianzen sowie Frauenrechtsbewegungen.
Im HKW wird die Installation zum ersten Mal in ihrer vollständigen Form auf Großleinwand gezeigt und so zur monumentalen Konfrontation in eben jener ehemaligen Kongresshalle, die von der gleichen antikommunistischen US-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg an die Stadt West-Berlin gestiftet wurde. In Sichtweite für die Menschen in Ost- Berlin, wurde die Kongresshalle genau an der Grenze errichtet und sollte dafür werben, dass Antikommunismus die Voraussetzung für Entnazifizierung und „Freiheit“ sei. Insofern versteht sich die Installation als ein Exponat, das in kuratorischer wie in juristischer Hinsicht die Versprechungen einer liberalen Demokratie als Werkzeug des Krieges offenlegt. Durch den Dialog mit der hochauflösenden Darstellung des US-amerikanischen Antikommunismus in End Credits wird The Missed Seminar sowohl zu einer Ausstellung als auch einer Studie, die der Freundschaft zwischen Eslanda Robeson und dem deutsch-jüdischen, marxistischen Philosoph Franz Loeser 1963 in Ost-Berlin nachspürt. Mehr diagrammatische Skizze als getreue Wiedergabe würdigt es Eslanda Robeson und ihr „großes und unkonventionelles Leben“ (Barbara Ransby), das allzu oft von dem ihres Mannes überschattet wurde, wobei es der Bedeutung ihrer Begegnungen mit der Studenten- und Frauenbewegung besondere Aufmerksamkeit schenkt. Neben ihrem „Schreiben als ein politischer Akt“ (Katharina Warda) und Fotografien aus „panafrikanischer Perspektive“ (Leigh Raiford) ist der entscheidende Vektor, an dem sich The Missed Seminar orientiert, eine Fotografie, die ein Treffen von Eslanda Robeson und Franz Loeser in Ost-Berlin zeigt: Am 8. Juli 1963 besuchten beide die Prozesseröffnung gegen den nicht anwesenden Hans Globke vor dem Obersten Gericht der DDR, ein symbolischer und international beachteter Prozess gegen den Faschismus und seine Vertreter, die im Westdeutschland der Nachkriegsjahre weiterhin Machtpositionen innehatten.
The Missed Seminar möchte das Zukunftsweisende der von den Robesons gelebten Freundschaften, Begegnungen und Erzählungen würdigen, die im Unbewussten der früheren kommunistischen Geografie Europas eingeschrieben sind, und die viel zu häufig aus den potentiellen Geschichtsschreibungen des Kommunismus gestrichen werden. The Missed Seminar versucht, eine Übung des Reflektierens zu sein über die ambivalente Behauptung der DDR, Antifaschismus sei die Grundlage ihrer Staatsgründung, aus der sich aber auch eine Staatsmacht ableitete, mit der die Robesons als so „angenehm undeutsch“ isoliert wurden, „ohne dass man sich notwendigerweise mit dem ostdeutschen Rassismus gegen Schwarze Menschen auseinandersetzen musste“ (Kira Thurman). Könnte der Ansatz, eine „Vergangenheit, die die Gegenwart noch nicht eingeholt hat.“ (Avery F. Gordon) oder eine „vergangene Zukunft“ (Matana Roberts) zu untersuchen, eine Praxis der Entkolonialisierung des Sozialismus von den globalen Politiken des Kalten Kriegs sein? Könnte eine solche Studie einen antikolonialen, Schwarzen feministischen Internationalismus und eine transkontinentale Welterschaffung mobilisieren, um heute eine intersektionale Geopolitik der Erinnerung zu aktivieren?
The Missed Seminar. Nach Eslanda Robeson. Im Dialog mit Steve McQueens „End Credits“ ist auch als eine Übung zu verstehen, um die unterschiedlichen Archivmaterialen in Bezug auf die Chronopolitik der kuratorischen Untersuchung zu lesen, die sich in der Architektur des HKW verortet. Die Raumkonzeption der Ausstellung versucht, das transhistorische Versprechen des archivierten Dokuments sowie die epistemische Zukunft des abwesenden Dokuments zu beleben. Die visuelle Gestaltung des Forschungsdisplays suggeriert eine Bearbeitung der Archivfotografien mit einem Fokus auf den Gesten der Übertragung: Gesten des Schreibens, Sprechens, Begrüßens sowie des Aufzeichnens und der Berichterstattung. Daraus entsteht eine Situation, die die Ausstellung zu einem Hybrid aus Display und Studium öffnet. In diesem Kontext zielt die kuratorische Untersuchung darauf ab, die Transgenerationalität von Archivmaterial durch eine visuelle Forschung in Form eines Videos durch die Künstlerin Aarti Sunder zu erproben, wobei der Schwerpunkt auf den Reibungen in den Begegnungen zwischen dem Analogen und dem Digitalen als Modus der Ungewissheit wie auch der Potenzialität liegt. Das Projekt wird in Form einer Print-Veröffentlichung eines Gesprächs zwischen Steve McQueen und Doreen Mende über End Credits (2012-2022), einem Dossier auf der digitalen Plattform VOICESund einer temporären Vitrinen-Intervention in der ständigen Sammlung moderner Kunst im Albertinum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) fortgesetzt.
Doreen Mende