Kuratorisches Statement
»Erinnerst du dich, wie wir früher unser Denken schulten? Meist gingen wir von einem Traum aus…«
Le livre d’image – Jean-Luc Godard
Seit etwa zwanzig Jahren begleite ich Jean-Luc Godard als sein Schneide(r)genosse, der die Bilder bearbeitet, mit digitaler Technik und 3D bastelt, an Ton, Schnitt, Farben und Produktion hantiert. Die Entstehung eines Films beschäftigt uns mehrere Jahre, wir arbeiten tagsüber an ihm und nachts arbeitet er an uns. In unserem kleinen Schneideraum durchleben wir ihn von innen, die Filmstellagen umgeben uns. In den Regalzeilen entwickelt sich das erste Skript. Jedes Fach entspricht einem Filmkapitel, einer Sequenz, in der die Bücher, die Bilder, die Musik, die Texte und die Töne angeordnet sind – die Quellen, aus denen sich der Film zusammenfügt. Der ganze Film ist enthalten in diesem scénario administrant la mise en scène aus Rohmaterial, das im Raum von links nach rechts, von oben nach unten und in die Tiefe hinein ausgebreitet ist.
Mit Jean-Lucs Händen an den Videomaschinen reihen sich die Bilder auf dem Magnetband nach und nach in eine Spur. Ein erster Pfad. Wir lassen sie laufen, begleiten sie vorwärts, und zurück. Der Film erscheint auf dem Screen in der Montagekammer. Später wird er sich selbstständig machen, auf anderen Monitoren oder Leinwänden die Betrachtenden auf seine Reise mitnehmen, ihnen aber auch sein Tempo vorgeben.
Sentiments, Signes, Passions erweitert, entfaltet und vervielfältigt den kleinen Schnittraum und inszeniert ihn als Filmraum. Hier definiert das Schritttempo der Besucher*innen den Filmablauf, sie werden selbst zum zeitgebenden Cursor. Ein bisschen so, als würden sie als Miniaturen die Etageren des Films wie einen Wald durchqueren. Die Ausstellung möchte Emotionen vermitteln ohne Worte beizufügen, indem sie zwischen die Filmelemente Raum und Zeit setzt, um so Besucher*innen einen Einblick zu vermitteln, ihnen zu sehen und zu denken zu geben.
Der gesamte Filminhalt von Le livre d’image wird in Hunderten von Fragmenten über etwa zwanzig Lautsprecher und vierzig Flachbildschirme aus zweiter Hand wiedergegeben – gebrauchte Geräte unterschiedlicher Größe, verschiedener Baujahre und Modelle: Im Raum positioniert, treten sie miteinander in einen Dialog im Montage-Dschungel. An perspektivischen Kreuzungspunkten laden disparate, knarrende Holzstühle die Flaneur*innen zum Innehalten ein, zur Rezeption aus bevorzugten Sichtwinkeln. Sie bieten ein Fenster zur Realität, für Spiegelungen zwischen der Außen- und der Innenwelt, zwischen Gegenwart und Erinnerung. Die Stühle stehen für unsere fragile, brüchige, unbeständige conditio humana.
Im Herzen des Hauses der Kulturen der Welt, am Rande des Tiergartens, das sich im Herzen Berlins, im Herzen der Geschichte verortet, entsteht auf globalerer Ebene ein Zusammenklang des livre d’image und seiner Bestandteile in einem sich ständig erneuernden Hier und Jetzt und damit mit uns. Sentiments, Signes, Passions versteht sich als Gelegenheit, frei und für sich selbst nachzuempfinden, was dieser Film vorschlägt: den Versuch, vom Menschen zu erzählen und von dem, was ihm widerfährt, was ihn prägt, ihn manchmal in Abgründe stürzt, ihn in jedem Fall permanent verändert; einen kritischen Blick auf das 20. Jahrhundert und flüchtig auch auf die Zeiten davor.
Fabrice Aragno