Eine Geologie der Gegenwart

Zur Ausstellung Earth Indices

In den Archiven der Erde lesen wir die Geschichte des Planeten. Die Zusammensetzung und Schichtung von Gesteinen, Sedimenten und Fossilien lässt auf lang vergangene klimatische Bedingungen, tektonische Verschiebungen und ökologische Verhältnisse schließen. Aufgabe der Geochronologie ist es, diese planetare Tiefenzeit zu klassifizieren, sie in Abschnitte zu unterteilen und die Momente des Übergangs zu identifizieren. Auf diese Weise haben Geolog*innen eine Chronik des Planeten geschrieben, die über Ereignisse und Epochen der Erdgeschichte Auskunft gibt. Was aber weiß die Geologie von der Gegenwart?

Die Umwälzungen des Erdystems in den letzten Jahrzehnten zeigen, dass planetare Zeitlichkeiten und Dynamiken untrennbar mit gesellschaftlichen und politischen Prozessen verknüpft sind. Die Notwendigkeit, Planet und Gesellschaft zusammenzudenken, zeigt sich besonders prägnant in dem Vorhaben, das Anthropozän als neue Erdepoche anerkennen zu lassen und in in die geologische Zeitskala aufzunehmen. Dieses Ziel verfolgt die Anthropocene Working Group (AWG) seit 2009. Voraussetzung dafür ist die Identifizierung eines sogenannten Golden Spike, eines spezifischen Ortes auf der Welt, an dem der planetare Übergang von einem Erdzeitalter ins nächste stratigrafisch eindeutig ablesbar ist.

Auf der Suche nach diesem Golden Spike analysieren die Anthropozän-Geolog*innen die allerjüngsten Schichten im Erdarchiv. Dabei stoßen sie auf winzige chemische, biologische und physikalische Spuren, die auf menschengemachte Veränderungen in planetarer Größenordnung hinweisen. Seit 2019 werden im Auftrag der AWG zwölf mögliche Standorte des Anthropozän-Golden-Spikes untersucht. Dazu wurden geologische Proben unter anderem vom antarktischen Eisschild, von den Sedimenten eines nordost-chinesischen Vulkansees, von Korallen vor der Ostküste Australiens oder von einem Torffeld auf der polnischen Seite der Schneekoppe entnommen. In den unteren Schichten dieser geologischen Proben sind die anthropogenen Signale noch kaum vernehmbar. Doch je höher man die stratigrafischen Schichten hinaufsteigt – sich der Gegenwart nähert –, desto deutlicher werden sie.

Mit der eklatanten Beschleunigung und Globalisierung ökonomischen Wachstums und ökologischer Verheerung hinterlassen die industriellen Aktivitäten eines zunehmend größer werdenden Teils der Menschheit eine offenkundige chemische Gravur im irdischen Archiv. Nach zehnjähriger Forschungsarbeit ist die AWG im Jahre 2019 übereingekommen, den Beginn des Anthropozäns auf die Mitte des 20. Jahrhunderts, den Anfang der sogenannten Great Acceleration, zu datieren. Die planetaren Auswirkungen dieser „großen Beschleunigung“ auf das Leben, die Luft, die Meere, Seen und Flüsse sowie das Meereis und die Gletscher werden ab diesem Zeitraum deutlich sicht- und messbar. Zum ersten Mal stehen nun Chronostratigraf*innen vor der diffizilen Aufgabe, eine Erdepoche zu definieren, deren Startpunkt mitunter in der eigenen Kindheit liegt.

Wie lässt sich diese unauflösbare Verflechtung zwischen den Forscher*innen und ihrem Gegenstand darstellen? Wie verwandeln sich geologische Materialien auf ihrem Weg durch die Laboratorien und die Hände der Wissenschaftler*innen? Welche Prozesse des Austauschs und der Übersetzung liegen der Produktion geologischer Evidenz für das Anthropozän zugrunde? Wie wird die These vom neuen Erdzeitalter operationalisiert, wie wird das Anthropozän „verarbeitet“?

Earth Indices ist das Ergebnis einer zweijährigen Zusammenarbeit zwischen den Künstler*innen Giulia Bruno und Armin Linke und den vielen Wissenschaftler*innen, die an der stratigrafischen Erforschung des Anthropozäns beteiligt sind. Giulia Bruno und Armin Linke blicken auf ein Jahrzehnt der Auseinandersetzung mit anthropozänen Fragestellungen zurück. Bereits 2013/2014 gingen sie in ihrer gemeinsam mit Territorial Agency und Anselm Franke für das HKW entwickelten Arbeit Anthropocene Observatory den Auswirkungen des neuen Erdzeitalters auf gesellschaftliche Infrastrukturen, Regierungsformen und Communitys nach. Seitdem befassen sie sich kontinuierlich mit Fragen des Handelns und Forschens im Anthropozän.

Earth Indices ist sowohl Ausstellung als auch Experimentalsystem, in dem nicht nur die Sedimente des neuen Erdzeitalters, sondern auch die Instrumente, Verfahren und Praktiken für die Herstellung geologischer Evidenz sichtbar werden.
Dafür haben die Künstler*innen die Untersuchungen der AWG intensiv begleitet, Dokumente und Materialien aus dem Umraum der Forschungsarbeiten ausgewählt und von den Wissenschaftler*innen kommentieren lassen. Earth Indices zeigt Fotografien, Filme, Skizzen, Scans und Datensätze aus allen Phasen des Projekts. Von Ansichten der Landschaften, in denen die stratigrafischen Proben entnommen wurden, über Mitschnitte der Arbeitsvorgänge in den beteiligten Laboratorien bis hin zu mikroskopischen Fotografien und beiläufig angefertigten Notizzetteln. Low-Tech-Instrumente und Alltagsutensilien wie Schaufel und Plastikfolie stehen neben High-Tech-Massenspektrometern und Analysegeräten.

In Zusammenarbeit mit der Gestalterin Linda van Deursen haben Giulia Bruno und Armin Linke eine Art Register entwickelt, mit dessen Hilfe den einzelnen Dokumenten genaue Angaben zu ihrer Position und Funktion im wissenschaftlichen Verfahren zugeordnet werden können. Großformatigen Karteikarten gleich vermerken die Arbeiten von Earth Indices einzelne Elemente und Momente der Forschungsarbeit. Unter Einbezug auch vermeintlich nebensächlicher Details vermerkt die Ausstellung die Produktionsmittel und -prozesse, die in die wissenschaftliche Herstellung des neuen Erdzeitalters einfließen. In seiner schematischen Vereinheitlichung verdeutlicht dieses Register einerseits den Umfang und die Vielfalt des vorliegenden Materials und andererseits die Komplexität der Austauschprozesse zwischen Sedimenten, Laboren und Forscher*innen, die der Produktion von Evidenz zugrunde liegen.

Über diesem Register liegt eine zarte, fast poetisch anmutende Spur von Kommentaren, Hinweisen und Notizen der Wissenschaftler*innen, entstanden im Gespräch mit den Künstler*innen. Diese Notizen schlüsseln das technische und anekdotische Wissen auf, das sich in den Dokumenten verbirgt und reflektieren die Praxis der eigenen Arbeit. Die Notizen sind die Spuren der intensiven Auseinandersetzung mit den stratigrafischen Materialien und dem Versuch, das in ihnen gespeicherte Wissen aufzubereiten, das Rauschen in eindeutige Signale zu überführen. Diese Schichtung aus Register und Kommentar ist das Werkzeug, mit dem Armin Linke und Giulia Bruno künstlerische, anthropologische und wissenschaftliche Ansätze miteinander in Berührung kommen lassen.

Die Symptome des Anthropozäns zeigen sich bereits in den verschiedensten Sphären des Erdsystems und der Gesellschaft; als Störung, als Unterbrechung, als Unsicherheit. Bislang mangelt es an Bildern, Sprachen und Grammatiken, die diesen Prozess versteh- und verhandelbar machen. Die Ausstellung von Giulia Bruno und Armin Linke ist ein Vorschlag zur Schließung dieser Lücke. Earth Indices ist ein Ensemble der anthropozänen Wissensproduktion, ein Versuch, die Produktionsbedingungen des neuen Erdzeitalters sicht- und lesbar zu machen.

Katrin Klingan