Die Verarbeitung des Anthropozäns
Ein Interview mit Giulia Bruno & Armin Linke
Earth Indices zeigt Dokumente und Materialien aus der Erforschung des Anthropozäns als ein neues vom Menschen geprägtes Zeitalter. Ihr habt die Dokumente in enger Zusammenarbeit mit den an dieser Forschung beteiligten Wissenschaftler*innen ausgewählt und entwickelt. Wie würdet Ihr diesen Arbeitsprozess beschreiben?
Im Verlauf der letzten zwei oder drei Jahre haben wir eng mit den zwölf Forschungsteams kooperiert, die im Auftrag der Anthropocene Working Group (AWG) stratigrafische Untersuchungen vorgenommen haben, um das Anthropozän als neue Einheit in die Internationale Chronostratigrafische Tabelle aufzunehmen. Im Zuge dessen haben wir uns mit den Wissenschaftler*innen kontinuierlich ausgetauscht. Unsere Position war dabei nicht neutral: Die überkommene Vorstellung, Dokumentarfotografie sei eine Methode, Dinge aus distanzierter und objektiver Perspektive aufzunehmen, ist reine Ideologie. Dokumentation kann nie neutral sein; dahinter steckt immer auch ein weltanschaulicher Kontext.
Zunächst haben wir uns mehrere Monate lang intensiv mit den Arbeitsabläufen und Methoden der Wissenschaftler*innen beschäftigt, um mehr darüber zu lernen und sie besser zu verstehen. In einer Reihe von digitalen Meetings haben wir sie in einem zweiten Schritt gebeten, Bilder für uns herauszusuchen beziehungsweise neu aufzunehmen: von der Entnahme der Bohrkerne, der Zerlegung einzelner Materialproben, ihrer Konservierung und Analyse; und Bilder, die von Laborinstrumenten und Geräten wie beispielsweise Scannern und Mikroskopen produziert wurden. Wir haben sie auch gefragt, ob sie Screenshots von den Monitoren der Geräte erstellen könnten, mit denen sie arbeiten.
Wir spielen mit der Stratigrafie als Methode, sich tief in den Prozess hineinzugraben.
Einige der Fotos wurden schon früher und ohne unser Zutun mit analogen Kameras aufgenommen, andere hingegen entstanden bei digitalen Meetings, zum Teil nach unseren Vorgaben. Aus diesen Bildersammlungen haben wir eine Vorauswahl getroffen und sie in Einzelworkshops mit jeder Gruppe diskutiert. Um besser verstehen zu können, welche Informationen in diesen Aufnahmen eigentlich enthalten sind, haben wir die Wissenschaftler*innen schließlich noch gebeten, Beschriftungen in die PDF-Dokumente einzufügen, und zwar so, wie sie es sonst auch praktizieren, ob sie nun markieren, kommentieren oder Anmerkungen einfügen.
Die Ausstellung enthält eine Reihe unterschiedlicher Abbildungen und Dokumente, deren Kontextualisierung einem standardisierten visuellen Register folgt. Welche Art Register ist das?
Gemeinsam mit der Gestalterin Linda van Deursen haben wir auf Basis des PDF-Dateiformats – das gängige Produktions- und Distributionsformat für wissenschaftliche Artikel – ein Grafikkonzept für eine standardisierte Bildvorlage entwickelt. Im September 2021 haben wir uns mit den Wissenschaftler*innen vor Ort im HKW getroffen, um ihnen das Format zu präsentieren, in dem sie ihre PDF-Notizen und Anmerkungen anfertigen sollten. Nach Erhalt des Materials haben wir es nochmal unter kuratorischen Gesichtspunkten durchgesehen.
Es geht uns darum zu verstehen, wie Daten gesammelt werden, um nachvollziehen zu können, wie diese Art von Bildern Teil von wissenschaftlichen Analysen werden.
Wir besitzen jetzt etwa 500 Abbildungen, von denen 150 in der Ausstellung gezeigt werden. Sie alle existieren in Form von PDFs, in denen die Metadaten, die gesammelten Fotos selbst und die Kommentare enthalten sind. Metadaten werden dabei wie Bilder behandelt, Lindas Konzept strukturiert ihren standardisierten Aufbau: Die Wissenschaftler*innen stellen institutionelle Daten, technische und Bohrkernanalyse-Daten, Ort, Datum, Signal, Geräte/Ausstattung, Dateiformate, geografische Koordinaten, Analysedetails und das Copyright zur Verfügung. Dank der standardisierten Struktur können die Besucher*innen sehen, wie die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen abläuft, aber auch, welche Unterschiede sich in ihrer Arbeit ergeben haben. Dieses Layout ist eine Art Strati-Grafik mit verschiedenen Schichten. Wir spielen mit der Stratigrafie als Methode, sich tief in den Prozess hineinzugraben. Linda hat die PDF-Abbildungen für die Ausstellung in verschiedene Skalierungen übersetzt, um hinein- und herauszoomen zu können. Es gibt zum Beispiel vergrößerte, sich wie ein Diptychon über zwei Papierbögen erstreckende Detailansichten.
Wir haben den Ausstellungsraum so eingerichtet, dass durch das Indexkarten-System ein Dialog entsteht zwischen der Geste des Archivierens als einer Geschichte-im-Entstehen und den Büchern sowie anderen Referenzmaterialien, die die Wissenschaftler*innen als Teil ihrer früheren und heutigen Forschung publizieren bzw. produzieren. Die Indexkarten umfassen alle 500 Bilder und stellen den Gesamtzusammenhang der Ausstellung her. Die vollständige Auswahl wird Teil einer PDF-Publikation, die auf der HKW-Website anthropocene-curriculum.org heruntergeladen werden kann.
Die einzelnen bei Earth Indices präsentierten Arbeiten zeigen mehrheitlich Fotografien, aber auch Notizen, Zeichnungen oder Grafiken. Welchen Charakter haben diese Bilder, welche Art Information übermitteln sie?
Viele dieser Bilder haben eine operative Funktion im wissenschaftlichen Prozess. Es geht uns darum zu verstehen, wie Daten gesammelt werden, um nachvollziehen zu können, wie diese Art von Bildern Teil von wissenschaftlichen Analysen werden.
Jedes Bild sollte seine eigene kulturelle Qualität besitzen, eine ästhetische Qualität bekommt es dann automatisch.
Eine Grafik ist eine bildliche Darstellung, genauso wie ein Bohrkern, denn oftmals wird nicht der materielle Bohrkern selbst analysiert, sondern Abbildungen davon. In der Wissenschaft kann nichts ohne den jeweiligen Kontext betrachtet werden: Ein Bild ohne Metadaten und Quelle ist nutzlos.
Es ist äußerst interessant, sich die Umgebung der Standorte, an denen die Bohrkerne entnommen wurden, genauer anzusehen. Beispielsweise ist im Hintergrund der Forschungsstätte in Polen ein Berg [die Schneekoppe] zu sehen, der völlig unberührt aussieht. Aber der Ort wurde aufgrund seiner Lage im sogenannten „Schwarzen Dreieck“ zwischen Polen, der Tschechischen Republik und Deutschland ausgewählt, das über Jahrzehnte schwerster Umweltverschmutzung ausgesetzt war. Einige dieser Orte und Landschaften verweisen auf eine kulturell gewachsene Bildwelt der Naturdarstellungen.
Die Drohnen-Aufnahmen vom Searsville Reservoir oberhalb von San Francisco sind spektakulär. Wir sehen, wie die Wissenschaftler*innen von einem Floß auf dem See aus einen Sedimentbohrkern aus dem Wasser ziehen. Es ist ein Trompe l'œil – die Drohne zeigt uns diese menschengemachte „Natur“, in dem sie den künstlich aufgestauten See, das Sillicon Valley und den Pazifischen Ozean miteinander verbindet. So verstehen wir, dass der Bohrkern in der anthropozänen geopolitischen Landschaft verankert ist, die ihrerseits das Ergebnis von Kolonialisierung und Ausbeutung im 19. und 20. Jahrhundert ist.
All das schält sich heraus, wenn man die entsprechenden Informationen zur Kenntnis nimmt und zusammenfügt. Jedes Bild sollte seine eigene kulturelle Qualität besitzen, eine ästhetische Qualität bekommt es dann automatisch. Wir hoffen, dass eine solche Gegenüberstellung und Aneinanderreihung von Text und Bild eine Reflexion über die genannten Zusammenhänge auf politischer Ebene auslöst.
Während einige Fotografien auf eure Initiative hin gemacht wurden, sind die meisten im Verlauf der wissenschaftlichen Arbeit und ohne die Idee eines Publikums im Hinterkopf entstanden. Welche Funktion haben diese Art Bilder?
Die Materialität des Bohrkerns beschreibt Zeit, Technologie, Klimawandel, Veränderungen des Planeten – sie unterteilt diese Veränderungen in etwas, das einer Partitur in der Musik ähnelt. Sie zu lesen und zu interpretieren erfordert unterschiedliche Medien und Technologien, Fotografien, chemische Verfahren – die wiederum in Daten übertragen und anschließend analysiert werden. Als Fotograf*innen und Künstler*innen ist es für uns spannend zu sehen, dass und wie all diese Instrumente, nicht nur die spektakulärsten, Teil des größeren Informationskonvoluts und der Kulturproduktion werden. Und in gewissem Sinne sind wir auch daran interessiert, ebendiese Hierarchie des Spektakulären zu destabilisieren; zu verstehen, wo das Bild, wo Fotografie scheitert. Wir haben um Bilder gebeten, die über die üblichen Illustrationen wissenschaftlicher Artikel hinausgehen, Bilder von den Mobiltelefonen der Wissenschaftler*innen zum Beispiel.
Anhand kleinster Partikel untersuchen die Wissenschaftler*innen Veränderungen planetarischen Ausmaßes.
Bei früheren Projekten wie Prospecting Oceans (2018) haben wir die Geschichte der Meeresbodenkartografie einer näheren Betrachtung unterzogen. Mit der Entwicklung von Schalltechnologie zu militärischen Zwecken wurden Unterwasserkarten erstellt. Diese Karten konnten auch die Information enthalten, dass der Meeresgrund geologisch betrachtet Potenzial zum Abbau von Rohstoffen birgt. Die geologische Bildgebungstechnologie hat damit das Problem erst geschaffen, was wiederum zu politischen Verhandlungen führte, wie diese Ressourcen ausgebeutet werden können – unter anderem durch die Gründung der Internationalen Meeresbodenbehörde. Es war spannend für uns, dass ein Bildgebungsverfahren ein wirtschafts- und geopolitisches Umfeld geschaffen hat.
Wie unterscheidet sich Eure Art und Weise der Bildbetrachtung von einer wissenschaftlichen Herangehensweise?
Bei wissenschaftlicher Betrachtung geht es darum, die zur Verfügung stehenden Instrumente einzusetzen: Trotz der unterschiedlichen Technologien und Techniken des wissenschaftlichen und ästhetischen Blicks sind die Resultate allerdings gar nicht so unähnlich. Persönlich sind wir an einem eher anthropologischen Ansatz von Wissenschaftsgeschichte und Medienwissenschaften interessiert: eine prozessuale Genese, die den Lauf der Dinge begleitet.
Die handschriftlichen Kommentare hingegen haben fast etwas Poetisches, jenseits akademischer Schwere.
Diese Vielfalt oder Variabilität von Kommentar, Überlagerung und Einschreibung ist für uns sehr aussagekräftig. Wir bieten, gemeinsam mit den Wissenschaftler*innen, nur einen kleinen Ausschnitt aus verschiedenen Ebenen an, hoffen aber, dass das Material auch für zukünftige Lektüren und Interpretationen anderer Akteur*innen und Communitys mit anderen Ansätzen zur Verfügung steht.
In den Dokumenten von Earth Indices sind mindestens drei Ebenen erkennbar. Zunächst Fotografien, dann das wiederkehrende Metadatenregister und schließlich die Kommentare mit je unterschiedlicher Tonalität und Typografie. Was bedeuten diese drei Ebenen und in welchem Bezug stehen sie zueinander?
Die letzte Ebene, die Kommentare, sind persönliche Gesten der Wissenschaftler*innen und Teil einer ganz bestimmten künstlerischen und grafischen Tradition der Erstellung von Notizen. Hierzu zählt auch der Begriff des Logbuchs mit tagesaktuellen Einträgen. Jede*r Wissenschaftler*in führt eines. Selbst in der fortgeschrittensten Astrophysik, DNS-Forschung oder in geologischen Laboren werden Notizen von Hand angefertigt. Uns gefällt die Vorstellung, diese grundlegende Laborpraxis aufzugreifen und die Behauptung in den Raum zu stellen, die Ausstellung sei eine Art gemeinschaftliches poetisches Logbuch der untersuchten Arbeitsabläufe; ein offenes Tagebuch, weil wir später noch weitere Seiten und andere Notizen hinzufügen könnten, als stratigrafische Geste.
Die Metadatenregister beinhalten institutionelle, von den Wissenschaftler*innen bestätigte und freigegebene Informationen. Solcher Art Informationen sind für die wissenschaftliche Arbeit ebenso wichtig wie die Informationen der Bildebene: Um ein Foto zu verstehen, braucht man die Kontextinformationen. Metadaten sind Teil dieses Systems der Entwicklung einer Sprache, einer Stratigrafie der Kodierung: Das resultierende Bild entsteht aus einem Code.
Die Entnahme von Bohrkernen stellt den Versuch dar, Zeit zu skalieren.
Metadaten können zudem eine schützende Funktion haben. Wir haben den Foto-Metadatenstandard des International Press Telecommunications Council angepasst und in ein System übertragen, das – gemeinsam mit dem PDF-Standard – die Wissenschaftler*innen vor Fehlinterpretationen bewahrt und ihre Forschungsergebnisse schützt. Wenn die Bilder zitiert werden, muss auch der Text zitiert werden. Wir wollten zudem hervorheben, dass jedes von uns im Alltag generierte Bild – beispielsweise mit unseren Mobiltelefonen – Metadaten und verschlüsselte Informationen enthält, die in die Dateien, die wir weiterleiten, eingebettet sind; das vergisst man häufig.
Die handschriftlichen Kommentare hingegen haben fast etwas Poetisches, jenseits akademischer Schwere – ein interpretatorischer Hinweis auf persönliches Storytelling für die Öffentlichkeit. Das ist aber keine romantische Vorstellung, eher das Gegenteil.
Es gibt also in den einzelnen Arbeiten miteinander interagierenden Ebenen. In der Ausstellung ist eine große Sammlung dieser Arbeiten zu sehen. Wie verhalten sie sich zueinander?
In der Ausstellung arbeiten wir mit dem Konzept der Skalierung. Die Entnahme von Bohrkernen stellt den Versuch dar, Zeit zu skalieren. Geologische Zeit hat einmal sehr weite Spannen umfasst und wurde über Millionen von Jahren gemessen – jetzt ist sie zu schmalen Schichtungen in Gesteinen und Sedimenten komprimiert. Dieser Maßstab hat eine eigene Materialität: Anhand kleinster Partikel untersuchen die Wissenschaftler*innen Veränderungen planetarischen Ausmaßes.
Die überkommene Vorstellung, Dokumentarfotografie sei eine Methode, Dinge aus distanzierter und objektiver Perspektive aufzunehmen, ist reine Ideologie.
Die Bohrkerne sind dabei unterschiedlich groß: Der Eisbohrkern ist 130 Meter lang, die Korallenproben nur wenige Zentimeter. Von den Wissenschaftler*innen haben wir gelernt, Gestein im Grunde genommen als Buch einer Zeitskala zu lesen. Der wissenschaftliche Prozess überträgt sich durch die Zustandsveränderung von Materie in ein skulpturales Konzept: Manche Gesteine müssen zur Ionen-Analyse in einen gasförmigen Zustand gebracht werden, Eis muss geschmolzen werden usw. Das System unseres Ausstellungsdisplays verbindet zwei Materialitäten miteinander: die zweidimensionalen ungerahmten Ausdrucke auf Papier und die skulpturale dreidimensionale, von der Decke herabhängende Metallstruktur. Dieses choreografische System, das Bilder zu narrativen Inseln gruppiert, stellt die unterschiedlichen Technologien und Materialitäten des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses nebeneinander. Die Installation ist nicht nur als künstlerische Ausstellung konzipiert, sondern auch als Instrument für eine performative und aktive Lektüre der gesamten Arbeit der Wissenschaftler*innen der Anthropocene Working Group. Dieser Prozess ist keineswegs abgeschlossen und die Ausstellung wird sich bis zur offiziellen Präsentation des Vorschlags der AWG [zum geologischen Nachweis des Anthropozäns] weiterentwickeln.