Kuratorisches Statement
Die liberal-kapitalistische Weltordnung, die nach 1989 durchgesetzt schien, befindet sich heute im Stadium fortgeschrittener Desintegration. Das Zerbrechen dieser Ordnung legt den illiberalen Kern ihrer kapitalisierenden Freiheiten und Eigentumsformen offen: die gewaltsame Unfreiheit der Besitzlosen ebenso wie die Gewaltbereitschaft der Besitzenden. Auch die Kunst zeigt sich als Austragungsort dieser Gewalten, ihrer Beschränkungen und ihrer Ausschlüsse. Mehr noch, der Ruin der Liberalität lässt die moderne Institution der „veranstaltlichten Kunst“ (Arnold Hauser) ganz grundlegend fragwürdig erscheinen. Anschließend an die vor 100 Jahren in Berlin verfassten Interventionen der Publizistin Lu Märten betrachten wir Kunst in Illiberal Arts als Resultat kolonisierender Einhegungen, als fortgesetzte In-Wert-Setzung, Aneignung und Enteignung weit über sie hinausreichender künstlerischer „Lebensarbeiten“. In der Gegenwart brechen über Jahrhunderte von dieser Verengung durchschnittene, erniedrigte und entwertete Lebensformen nunmehr unmissverständlich in den Beschränkungshorizont der Kunst ein. Und wo sie nicht als dessen kritische Ergänzungen erneut stillgestellt werden, führen sie in die praktische Wahrnehmung eines fortschreitenden Formverlusts der modernen Kunst ein, leiten liminale Vermittlungs- und Arbeitsformen aus ihr ab. Die bekannten Rituale der „veranstaltlichten Kunst“, die ihre soziale Legitimität mehr und mehr verlieren, verwandeln sich so in erweiterte (und nicht mehr nur) künstlerische Austragungsorte der illiberalen Gegenwart. Illiberal Arts ist ein Praxisversuch zur künstlerischen Lebensarbeit inmitten dieser illiberalen Gegenwart.
Die hier in Beziehung gesetzten Praktiken materialisieren den Illiberalismus im Kern der modernen Liberalität als Serie aus Bruchstellen moderner Eigentumsformen. Sie sind die Ausgangsbasis für eine direkt an gegenwärtige Formen anknüpfende gemeinsame Arbeit am Jenseits der veranstaltlichten Kunst. Solche (Lebens-)Arbeiten sind nicht nur Versuche eines gelebten Widerspruchs gegen die Sonderstellung der Kunst in der Moderne als ästhetische Säule der modernen Kosmologie unausgesetzter Kapitalisierung. Sie brechen auch formal mit der Fetischisierung des vereinzelten künstlerischen Ausdrucks, mit dessen Veranstaltlichung als antisoziales Reich absoluter Freiheit liberaler Subjektivität. Die in Illiberal Arts versammelten Praxisformen verbinden sich mit der Desintegration unserer Gegenwart, statt kritisch alternative Reproduktionsformen für sie anzubieten oder kompensatorische Fiktionen ästhetischer Gemeinschaft in ihr aufzurufen. Sie zielen stattdessen auf antiidentitäre, gemeinschaftliche Horizonte, auf kollektive Wahrnehmungsformen, auf politische Spontaneität, die heute in den Rissen der zerfallenden Akkumulationsformen hervorbrechen und registriert werden. In Illiberal Arts wollen wir nicht gemeinsam mit den Eingeladenen nach einer aktualisierten Bestätigung der liberalen Reproduktion von Kunst suchen, sondern diese und uns selbst ausgehend von unseren konkreten Abhängigkeiten und Verpflichtungen für außerkünstlerische Formen sozialer Gewalten öffnen.
Raymond Williams bezeichnete in seinen Keywords die Subjektform des kapitalistischen Liberalismus als „besitzergreifenden Individualismus“. Die Freiheiten des Subjekts sind Resultat jener nationalstaatlich legalisierten kapitalistischen Eigentumsformen, die den Besitz der modernen Bürger*innen an sich selbst hervorbrachten, immer angstvoll beschützt gegen diejenigen, die aus ihnen ausgeschlossen sind oder deren Teilhabe an ihnen widerruflich bleibt. Es ist dieser „besitzergreifende Individualismus“, der öffentlich machte und privat sein ließ, der bewies, dass das moderne Subjekt sich besitzt, dass es nicht besessen wird, dass es nicht besessen ist, dass es nicht besitzlos bleibt. Die Desintegration seines Universalitätsanspruchs und der gewaltvolle Verteidigungskampf um liberale Privilegien, den wir heute erleben, zerreißen auch die liberalen Modernitäten der Kunst. Nicht eine als kritisch zu verstehende Gruppenausstellung zu illiberaler Gegenwartskunst ist unser Ziel, sondern eine Deformation, die wir mit den eingeladenen bildenden, mit Sound, Performance und Sprache arbeitenden Künstler*innen sowie mit einer Gruppe von Diskutant*innen initiieren. Für Lu Märten galt „die ganze Lebensarbeit eines Menschen“ als künstlerisch: Was künstlerisch war, musste nicht immer schon Kunst werden. Was Kunst wurde, muss nicht notwendig Kunst bleiben.
Anselm Franke & Kerstin Stakemeier