Kuratorisches Statement
Zur Entstehung der Ausstellung
Nachdem es Ernst Gombrich in den 1930er Jahren nicht gelungen war, den Bilderatlas Mnemosyne in eine Publikationsform zu bringen, blieben einige Listen mit Identifizierungen der Einzelabbildungen im Archiv des Warburg Institute zurück. Auf diese Quellen konnte Dorothée Bauerle zurückgreifen, als sie Ende der 1970er Jahre die erste umfassende Untersuchung des Bilderatlas durchführte. Ihre Unterlagen überließ sie der Transmedialen Gesellschaft Daedalus (Werner Rappl u. a.), die um 1990 ihre Recherchen begann und 1994 den gesamten Atlas mit einer weitreichenden Identifizierung seiner Bilder veröffentlichte. Einen entscheidenden Schritt für das Wissen über die Genese des Atlasses brachte in diesen Jahren die Promotionsschrift von Peter van Huisstede De Mnemosyne beeldatlas van Aby M. Warburg: een laboratorium voor beeldgeschiedenis (1992). In dem Bilderatlas, den Martin Warnke 2000 im Rahmen der Gesammelten Schriften Warburgs herausgab, waren die Angaben der Daedalus-Gruppe weiterentwickelt; sie enthielten allerdings immer noch Lücken und Fehler. Dieser Forschungsstand wurde mit den Übersetzungen – ins Französische, Italienische, Spanische, Hebräische, Japanische, Polnische – fortgeschrieben und nur punktuell korrigiert.
Im Mai 2012 gründeten wir in Hamburg die Forschungsgruppe Mnemosyne, mit der wir eine lange Veranstaltungs- und Ausstellungsreihe zum Atlas im 8. Salon in Hamburg durchführten. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Marcel Hüppauff, Jochen Lempert, Christian Rothmaler, Katha Schulte, Philipp Schwalb, Kolja Gollub, Regine Steenbock und Knut Wittmaack. Wir konzentrierten uns vor allem auf die Erstellung eines Kommentars zu jeder Tafel; die Bildlegenden wurden nur stellenweise überprüft und korrigiert. Im Frühjahr 2016 schlugen wir dem Warburg Institute vor, in dessen Photographic Collection für zwei Tafeln die Originalabbildungen aus den 1920er Jahren zu suchen. Die Idee war, Tafel 32 und Tafel 48 bestückt mit Originalabbildungen aus dem Warburg Institute in der Ausstellung zur Rekonstruktion des Atlas der Forschungsgruppe Mnemosyne im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) Karlsruhe zu zeigen, zu der Peter Weibel uns eingeladen hatte. Ein großer Teil der Abbildungen auf den Tafeln, die Warburg selbst in die Hand genommen hatte, kam in relativ kurzer Zeit zum Vorschein – ein Erfolg, der uns ermutigte, den Versuch auf die „originalen“ Elemente aller Tafeln auszudehnen. Im Herbst 2016 konnten wir David Freedberg, seinerzeit Direktor des Warburg Institute, für diesen Plan gewinnen und erhielten von ihm den Auftrag, das Vorhaben umzusetzen. Er wollte die Originalversion des Atlas in London zeigen, trat einige Monate später jedoch von seinem Amt zurück, und so ruhte die Zusammenarbeit zunächst.
2018 ging das HKW auf unseren Vorschlag ein, die Wiederherstellung der Originalversion zum Gegenstand einer Ausstellung zu machen. Aufgrund dieser Initiative kam es zur Erneuerung der Kooperation mit dem Warburg Institute. Bill Sherman, der neue Direktor, unterstützte das Vorhaben mit dem ihm eigenen Elan. Unsere Recherchen in der Photographic Collection führten zum erhofften Ergebnis: Auch für den gesamten Atlas konnten wir etwa 80 Prozent der Originale des Bilderatlas sicherstellen. Wir wurden von der Archivarin des Instituts, Claudia Wedepohl, und dem Team der Photographic Collection – Paul Taylor und Rembrandt Duits – sowie maßgeblich von Lorenza Gay unterstützt. Daneben waren Mateusz Sapija, Susanne Förster und Amirkhan Saifullin mit uns in der Photographic Collection tätig. Zugleich überprüften und ergänzten wir systematisch die Bildlegenden, wobei Joacim Sprung und Giovanna Targia uns aus der Ferne wertvolle Hinweise gaben.
Nur für knapp ein Dutzend der insgesamt 971 Abbildungen fehlen nun noch einzelne Angaben zum Verbleib, Erscheinungsort oder zur Autorschaft. Die Nummerierung der Gesammelten Schriften wurde beibehalten, da sie sich mittlerweile international durchgesetzt hat, auch wenn sie zum Teil nicht nachvollziehbar ist.
Wo es nicht möglich war, die Originale zu finden, haben wir die Bestände der Photographic Collection und der Bibliothek des Warburg Institute benutzt, um Ersatzabbildungen zu generieren. In einigen Fällen mussten wir Originale verwenden, die zwischenzeitlich verändert worden waren, zum Beispiel beschnitten oder auf einen anderen Träger montiert. Dank der freundlichen Unterstützung von Bill Sherman und Uwe Fleckner konnten wir auf Material der Zentralstelle für wissenschaftliche Sammlungen, Universität Hamburg, zurückgreifen. Außerdem standen uns die Bilddaten von Daedalus (Wien) und dem Archiv der Forschungsgruppe Mnemosyne / fluid zur Verfügung.
Im April 2020 konnten wir mit der Publikation des Foliobandes Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – The Original den Stand unserer Forschungen vorlegen.
Roberto Ohrt und Axel Heil, Kuratoren