Kuratorisches Statement

Die Gegenwart ist von grundlegenden Auflösungsprozessen bestehender Wissens- und Ordnungssysteme bestimmt. In der Grauzone zwischen dem Ende der alten Welt und der Entstehung einer neuen, der „Jetztzeit der Monster“, wie sich eine vielzitierte Eintragung aus den Gefängnisheften Antonio Gramscis in den 1930er Jahren aktualisieren lässt, kulminieren die so gewaltsamen wie überwältigenden, so wechselhaften wie problematischen „100 Jahre“, aus der die Gegenwart hervorgegangen ist.

Eine zentrale politische Idee prägt diese Gegenwart bis heute: der Nationalstaat in seinem globalen Regelwerk, wie er sich nach dem Ersten Weltkrieg endgültig als universelle Form politischer Organisation etabliert hat. Seither wurden antikoloniale Befreiungskämpfe und Forderungen nach politischer Autonomie grundsätzlich als Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung interpretiert – nach Art des westlichen Modells. Nicht nur das, es entstand die Vorstellung eines weltweit kohärenten Systems souveräner Staaten, in dem gleichberechtigte Rechtseinheiten gebildet werden sollten, deren Angelegenheiten durch ein rational bestimmtes, internationales Rahmenwerk geregelt würden. Der in dieser Struktur angelegte Idealismus kam jedoch kaum zum Tragen. Zwar wurden alte Ordnungskonzepte verworfen, doch das neue System trat ein Erbe imperialer Verhältnisse sowie rassistisch motivierter Ungleichheit an, das von Anfang an jede Möglichkeit einer Weltgemeinschaft gleichberechtigter Staaten ausschloss. Ein großer Teil heutiger Ungewissheit rührt von Kräften her, die durch diese Ungleichheiten als inhärenter Bestandteil globaler politischer Verflechtungen unterdrückt oder an den Rand gedrängt wurden und nun mit Macht an die Oberfläche zurückdrängen.

Der Nationalstaat ist für das heutige Denken mittlerweile so zentral geworden, dass andere Formen politischer Organisation kaum mehr vorstellbar sind – obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt andere Optionen erdacht und diskutiert wurden. Während die Idee der Nation lokalen Wünschen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung Auftrieb gab, war sie weit weniger zugänglich für einen Idealismus kosmopolitischer oder universaler Prägung, den andere, heute marginalisierte Modelle propagierten: von der internationalen Friedensbewegung zu Vorstellungen eines föderalen Weltstaats, von transnationalen antikolonialen Bewegungen zum kommunistischen Internationalismus. Der Bezug zu diesen alternativen Zukunftsvorstellungen ist heute verloren gegangen – und damit auch zur Idee, dass politische Neuerungen auf der Makroebene überhaupt zulässig sind. Angesichts der blinden Flecken, Grauzonen und Misserfolgen des Nationalstaatensystems gilt es, eine solche Zone politischer Innovation (zurück)zuerobern, und zwar eine, die offen ist für neue Vorstellungen und radikale Setzungen.

Die Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Nationalstaatensystems lässt sich im Hinblick auf Migration sehr genau beobachten. Dass so viele Menschen im Nahen Osten und in Afrika gezwungen sind, ihre Länder zu verlassen, ist ein Ergebnis dieses inhärenten Versagens, ebenso wie die Unfähigkeit des Nationalstaatensystems, mit den ethischen, politischen und materiellen Konsequenzen von Migration angemessen umzugehen. Während der Staat zwischen Bürger*innen und Nicht-Bürger*innen unterscheidet, stellt Migration – verstanden als politische und soziale Bewegung – gängige Vorstellungen von Staatsangehörigkeit in Frage und setzt auf Strategien, die zumindest das „Recht, Rechte zu haben“ (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) einfordern.

Während die weitere Entwicklung dieser Bewegungen angesichts wachsender Nationalismen und Rassismus kaum abzusehen ist, bilden sich Transformationen aus, die in den nächsten Jahren noch an Gewicht gewinnen werden: Viele der gegenwärtigen Mutationen des Nationalstaatensystems haben damit zu tun, dass staatliches Handeln zunehmend von Technologien und globalen Finanzkreisläufen bestimmt wird. Das hat augenscheinlich zu einer Erosion essenzieller Bereiche staatlicher Autorität geführt, die teilweise an private und suprastaatliche Organisationen ausgelagert wurden. Gleichzeitig sind andere staatliche Funktionen erstarkt, insbesondere auf dem Gebiet der Sicherheit und sozialen Kontrolle. Zusammengenommen haben diese Entwicklungen die Vorstellung davon, was der Staat ist und welchem Zweck er dient, längst verändert. Da der Westen nicht länger das Monopol auf diese Vorstellungen hält, ist der gegenwärtige Wandel von mächtigen neuen Konzepten des Nationalstaats beeinflusst, die jenseits der westlichen Welt entstanden sind: Konzepte, die oft nur noch wenig mit Begriffen wie Liberalismus und Demokratie gemein haben, welche früher so scheinbar unverbrüchlich mit der Zukunft der gesamten Welt verbunden schienen.

Die Jetztzeit der Monster verfolgt dabei eine zweifache Suchbewegung. Zum einen soll die Gewalt als Strukturprinzip sichtbar gemacht werden. Zum anderen folgen wir den Spuren des Fundaments heutiger Verhältnisse in der Geschichte: der Gewalt, dem Ausschluss, den Auslagerungen und Vertreibungen. Dabei kommen alternative Erzählungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Sprache, denn sie ermöglichen nicht zuletzt, sich das Ausgeschlossene, längst Verworfene zu vergegenwärtigen: „Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann“ (Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen).

Hierbei spielt Zeitlichkeit eine wesentliche Rolle. Um Zukünftigkeit zurückzugewinnen, machen wir die Jetztzeit (Walter Benjamin) selbst zur Frage. Gramsci verortete die Krise – die Zeit morbider Symptome – in dem Umstand, dass die alte Welt im Sterben liegt und die neue noch nicht geboren ist. Auch die heutige Krise – die Zeit der Monster – ist durch zeitliche und strukturelle Störungen bedingt. Wir wollen daher einen Raum schaffen, durch den die Gegenwart wieder lesbar wird, indem wir ihre historischen Bedingtheiten dekonstruieren und damit ein Denken über das Nationalstaatensystem hinaus ermöglichen.

Rana Dasgupta, Nanna Heidenreich, Katrin Klingan