Ein Anbeginn des Anthropozäns?
Von Jan Zalasiewicz (2014)
Die Geschichte der Erde reicht ein wenig länger als viereinhalb Milliarden Jahre zurück, bis zum geheimnisvollen Hadaikum, von dem wenig geblieben ist. Vom Anfang des darauffolgenden Archaikums, ungefähr vor 3,8 Milliarden Jahren, sind Gesteinsschichten erhalten, aus denen sich vergangene Zustände der Erde ablesen lassen – das Ergebnis mühsamer und raffinierter Detektivarbeit, die über die letzten beiden Jahrhunderte von Geologen durchgeführt wurde. Diese Geschichte ist enorm und umfasst eine scheinbar zahllose Folge von Veränderungen in Geografie, Landschaft, Meeresspiegel, Klima und Biologie. Für fast die gesamte Erdgeschichte gab es keine menschlichen Beobachter, die sie analysieren und aufzeichnen konnten – daher müssen die Gesteinsschichten befragt werden. Aber wie entwickelt man ohne dokumentierte Beobachtungen einen schlüssigen Zeitrahmen für diese lange Geschichte?
In den ersten circa einhundert Jahren einer ernsthaften geologischen Auseinandersetzung mit diesem Thema war es schlicht unmöglich, die bei menschlichen Historikern übliche Maßeinheit anzuwenden, nämlich das Jahr. Im 19. Jahrhundert wurden zwar das riesige Ausmaß. und die Komplexität der Erdgeschichte deutlich. Aber die Länge dieser Geschichte blieb trotz diverser ausgeklügelter Versuche, sie zu messen (wie lange es beispielsweise dauern konnte, bis die Erde abgekühlt war oder bis die Ozeane salzig waren), auf frustrierende Weise unklar. Schatzungen variierten zwischen ein paar Millionen Jahren bis hin zu vielen Milliarden Jahren – aber eigentlich wusste es niemand. Deshalb wurde diese Geschichte in eine Folge von Erdzeit-Dynastien zerlegt, die sich durch unterschiedliche physikalische, chemische und (insbesondere) biologische Zustände auszeichneten, die alle von diesen informationshaltigen
Gesteinsschichten abgeleitet wurden. Diese Dynastien bekamen Namen wie Kambrium, Jura und Pleistozän, und die großen Einheiten (Äonen) wurden immer weiter in kleinere Einheiten aufgeteilt – Ären, Perioden, Epochen und Zeitalter. Die Geschichte wurde immer komplexer, und immer noch wusste niemand, wie viel Zeit sie umfasste. Dann, Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde Henri Becquerels Entdeckung der Radioaktivität dazu genutzt, die Dauer dieser Zeiteinteilungen in Millionen von Jahren festzulegen. Geologen legten allerdings nicht ihren sorgfältig erstellten dynastischen Rahmen beiseite, um einfach nur noch numerische Zeit zu verwenden (obwohl es entsprechende Vorschläge gab). Die Dynastien der Gesteinsschichten waren einfach zu nützlich – und da sie echte, genuine Veränderungen im Zustand der Erde widerspiegeln, waren sie zudem eine praktische Gedächtnisstütze für die Hauptphasen der Erdgeschichte.
Daher werden diese Bezeichnungen – Jura, Pleistozän und so weiter – weiterhin als die wichtigsten Einheiten geologischer Zeit verwendet. Für die letzte halbe Milliarde Jahre der Erdzeit – seit also immer mehr Fossilien entstanden – werden diese Einheiten durch (nach Jahrzehnten hitziger Debatten) sorgfältig ausgewählte physische Referenzpunkte innerhalb einer Gesteinsebene an einem Ort auf der Welt definiert, um den Zeitpunkt zu repräsentieren, an dem eine Epoche, Ära oder Periode aufhört und die nächste beginnt. Dies sind die sogenannten golden spikes, die geologische Zeiteinheiten definieren und formell als Global Stratotype Section and Point (GSSP) bezeichnet werden. Bei älteren Gesteinen, die die Zeit repräsentieren, bevor Fossilien reichlich vorhanden waren, werden mehr oder weniger willkürlich festgelegte numerische Grenzen gezogen, mit denen Geologen dann so gut wie eben möglich arbeiten. Die Grenze zwischen dem Archaikum und dem Proterozoikum beispielsweise wurde auf einen Punkt vor 2,5 Milliarden Jahren festgelegt. Dies sind die Global Standard Stratigraphic Ages (GSSAs).
Und nun ganz kürzlich der Auftritt des Anthropozäns – im Jahr 2000 von Paul Crutzen und Eugene Stoermer als Bezeichnung für die jüngste geologische Epoche vorgeschlagen. Das Anthropozän ist immer noch ein informeller Begriff, aber es wird gerade geprüft, ob er formell Teil der Geologischen Zeitskala werden kann. Es ist in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Begriff, der die dramatische und geologisch gesehen rasante, vom Menschen verursachte Veränderung der physikalischen, chemischen und biologischen Merkmale der Erde widerspiegelt. Es ist bei Weitem die kürzeste Epoche der Erdgeschichte. Immer noch wird debattiert, wo der Anfang gesetzt werden sollte, aber inzwischen gibt es einen wachsenden Konsens, dass er mit der »Großen Beschleunigung« (Great Acceleration) globaler wirtschaftlicher Aktivität Mitte des 20. Jahrhunderts assoziiert werden sollte, gleichzeitig der Beginn des nuklearen Zeitalters. Demnach wäre das Anthropozän aktuell weniger als 70 Jahre alt, verglichen mit der durchschnittlichen Lange einer geologischen Epoche von etwas über zehn Millionen Jahren. Es steht noch ganz am Anfang – menschliche Aktivität hat den Verlauf der Erdgeschichte unumkehrbar verändert, selbst wenn wir nicht genau wissen, wie sich die zukünftige Geschichte entwickeln wird.
Wie also sollte das Anthropozän definiert werden? Eine Möglichkeit wäre, irgendwo einen GSSP oder golden spike dafür festzulegen. Dies konnte beispielsweise in den Sedimentschichten in einem See oder in einer ungestörten Tiefsee sein, oder sogar in den jährlichen Schichten aus Eis und Schnee, die sich auf einer großen Eiskappe angesammelt haben. Wie bei älteren geologischen Zeitgrenzen waren erhebliche Forschungen notwendig, um den besten Ort für einen solchen spike zu bestimmen. Das Anthropozän fällt allerdings mit sehr präzise datierten historischen Aufzeichnungen und Beobachtungen zusammen – natürlich von Menschen konstruiert. Daher konnte es einfacher und pragmatischer sein, einfach ein numerisches Datum aus dem menschlichen Kalender auszuwählen und dies als Zeitbegrenzung zu verwenden – also als GSSA. Auch hier gibt es Debatten, welches Datum am besten dafür geeignet wäre. Es konnte vielleicht 1945 sein, das erste Jahr, in dem von Atombomben stammende Partikel über die ganze Welt verstreut wurden, oder 1950 (was das Jahrhundert genau teilen wurde und das »Basisdatum« der Datierung mit der Radiokarbonmethode). Wie bei vielem anderen mit dem Anthropozän ist dies eine noch nicht abgeschlossene Arbeit. Das Anthropozän stellt eine außergewöhnliche, beispiellose und bedeutende Phase der Erdgeschichte dar. In den Einzelheiten ist es jedoch unglaublich kompliziert. Es genau zu definieren wird also nicht einfach.