Einführende Rede

von Jürgen Renn

Anthropocene Campus, ©Sera Cakal

Knowledge

Liebe Freunde und Bewohner des Anthropozäns,

Was ist Wissen? Offenbar gibt es viele verschiedene Auffassungen von Wissen, und im Anthropozän brauchen wir außerdem eine Vielfalt der Wissensformen. Doch wir müssen als Bewohner des Anthropozäns auch miteinander in Verbindung treten. Das heißt zwar nicht, dass wir uns auf einen einzigen Begriff von Wissen einigen müssen, aber sehr wohl, dass wir in der Lage sein müssen, unsere Wissensbegriffe miteinander zu verbinden. Deshalb werde ich hier versuchen, einen Beitrag zu dieser Anschlussfähigkeit zu leisten.

Unser Ausgangspunkt ist die Erfahrung, einschließlich unserer Erfahrung des In-dieser-einen-Welt-Seins. Wissen ist kodierte Erfahrung. Deshalb hat Wissen eine Struktur, und diese Struktur – oder eigentlich: diese Strukturen – sind nicht unbedingt dieselben wie die Strukturen der Welt. Wissen ist konstruiert. Wissen ist den Lebewesen eigen, ein Teil davon den Menschen. Wissen ist ein wichtiger Bestandteil unser Handlungsmöglichkeiten. Mein Wissen könnte mir helfen, zu überleben. Unser Wissen könnte uns helfen, zu überleben. Doch das eine und das andere Wissen sind nicht zwingend von derselben Art.

Wissen ist in ständigem Fluss, weil sich unsere Erfahrungen ändern und weil Wissen eben kodierte Erfahrung ist. Deshalb können sich auch die Strukturen des Wissens ändern. Doch einige Erfahrungen sind für fast alle Menschen dieselben. Es gibt eine Wissensschicht, die beinahe universell ist: Es gibt feste, flüssige und luftähnliche Körper, es gibt Warm und Kalt, es gibt Licht, schwere Dinge fallen nach unten, wenn man sie nicht daran hindert, manche Dinge – wie Feuer – streben meist nach oben. Grain Vapor Ray – Korn Dampf Strahl. Daher erschließen viele Religionen, Philosophien und wissenschaftliche Theorien auf dieser Welt dieses intuitive Wissen. Sie beziehen daraus einen Teil ihrer Überzeugungskraft.

Wissen ist also in ständigem Fluss, weil sich unsere Erfahrungen ändern, und die Erfahrungen wiederum ändern sich, weil wir in dieser Welt handeln. Unser Handeln zu überdenken, ist eine bedeutende Quelle des Wissens. Dieses Wissen ist nicht länger universell. Es kann als praktisches Wissen an unsere Werkzeuge und an die Zwecke ihrer Verwendung gebunden sein, oder als theoretisches Wissen an die Mittel, die um ihrer selbst Willen erforscht werden.

Wissen hat Strukturen, die von unseren Erfahrungen ausgefüllt werden. Doch das Nachdenken über unsere Handlungen kann die mit unseren Erfahrungen ausgefüllten Strukturen ebenso verändern. Aus dem Ordnen der Dinge können wir lernen, wie man sie zählt, aus dem Zählen der Dinge, wie man sie addiert, aus dem Addieren der Dinge, wie man sie multipliziert, bis unser Wissen irgendwann abstrakte Zahlen umfasst, die sich von den zu zählenden Dingen ablösen, ebenso wie mathematische Schemata, mit denen wir unsere Erfahrungen quantifizieren oder eine platonische Welt reiner Ideen bildhaft machen können. Doch woher haben wir diese Fähigkeit? Vom Nachdenken über unser Handeln in dieser Welt.

Handlungen sind keine Funktionen. Sie sind auch keine bloßen Absichten. Sie finden ein Gegenüber in der Welt, in der sie stattfinden, das sich ihnen widersetzt, und sie nutzen oft Mittel, stoffliche Mittel. Diese Mittel können sehr verschieden sein. Sie können ein Hammer oder ein Teleskop sein, ein Bild oder eine Melodie, eine Feder oder ein IPhone. Die Geschichte der Handlungen ist die Geschichte der Spuren, die Handlungen in der Welt hinterlassen, aber auch die Geschichte der Mittel, die sie nutzen. Diese Mittel insgesamt bilden die Technosphäre. Da sind auch noch die Handlungen, die die Technosphäre hervorgebracht haben. Manche dieser Mittel wurden vergessen oder einer immer mächtigeren und autonomeren Technosphäre untergeordnet. Aber vergessen wir nicht: Wissen ist ein Handlungspotenzial, Wissen kann aus dem Nachdenken über unsere Handlungen entstehen. Wissen existiert und entwickelt sich gemeinsam mit der Technosphäre. Wir sind der Technosphäre nicht ausgeliefert. Wir haben unser Wissen.

Aber wo ist unser Wissen? In unseren Seelen, in unseren Gehirnen, in unseren Nerven, in unseren Händen, in unseren Fingern, in unseren Körpern. Vielleicht, aber nicht nur dort. Wissen kann auch veranschaulicht, äußerlich dargestellt werden. In unseren Gesten, in unseren Sprachen, in unseren Umwelten, in Symbolen, in Bildern, in Schriften, in Daten. Alle Verkörperungen haben ein Daseinsrecht! Wissen ist nie, nie stillschweigendes Wissen. Wer stillschweigend weiß, spricht schon laut.

Wissen darzustellen ist ein Handeln, über das wir nachdenken können. Das Nachdenken über Handeln kann Wissen erzeugen oder Wissensstrukturen transformieren. Wissen zu artikulieren wird so zu einem Akt der Schöpfung neuen Wissens. Wissen darzustellen, ermöglicht es uns zu kommunizieren. Dargestelltes Wissen kann gemeinsam erstellt und mitgeteilt werden. Lernen ist die Aneignung von Wissen. Die Aneignung von Wissen ist durch dessen äußere Darstellung in Form eines Spielzeugs, eines Wortes, eines Buchs vermittelt. Die Aneignung des Wissens verändert es. Individuelle, aus ihm hervorgehende Wissensstrukturen sind nie ganz identisch mit den gemeinsamen Strukturen des Wissens. Deswegen ist gemeinsames Wissen ständig im Fluss.

Wissen hat spirituelle und kognitive Strukturen, die in unseren Seelen, Gehirnen, Nerven oder Händen leben. Wissen hat auch materielle Strukturen, etwa Umwelten und Nischen, darunter unser eigener Körper, in die es eingebettet ist, ebenso wie äußere Darstellungen wie die Sprache oder Schrift. Wissen hat auch gesellschaftliche Strukturen in Gestalt der Familien, Arbeitsstätten oder Schulen, in denen es erzeugt, übermittelt und angeeignet wird. Diese spirituellen oder kognitiven, materiellen und sozialen Aspekte des Wissens sollten nicht auf einander reduziert, sondern als unabhängige Dimensionen der menschlichen Ökologie betrachtet werden.

Aber es gibt auch eine Wissensökonomie: Wissen wird hergestellt, übermittelt und in Besitz genommen. Wem gehört Wissen? Welche kognitiven, materiellen und gesellschaftlichen Strukturen eignen sich am besten, um jenes Wissen zu produzieren und zugänglich zu machen, das wir als Einwohner des Anthropozäns brauchen? Das sind wichtige Fragen für eine politische Epistemologie.

Wissen entwickelt sich. Jeder Prozess der Weitergabe von Wissen ist auch ein Prozess der Wissenstransformation. Das liegt daran, dass einzelne Akte der Aneignung immer gemeinsame Erfahrungen mit neuen individuellen verbinden. In diesem Sinn entsteht Wissen auch immer als lokales Wissen. In welchem Maß aus lokalem Wissen globales Wissen wird, hängt von der vorherrschenden Wissensökonomie ab. Diese ist nicht unabhängig von der Wirtschaft insgesamt, da nur ein gesellschaftliches Subsystem. Doch sie hat ihre eigene Dynamik und ist den dominanten wirtschaftlichen und politischen Prozessen nicht einfach untergeordnet. Es gibt immer einen epistemischen Mehrwert in der Wissensökonomie. Ob er groß genug ist, um uns vor dem Versagen des Anthropozäns zu retten, kann man heute noch nicht sagen. Vielleicht müssen wir die Gesellschaft verändern, um eine angemessenere Wissensökonomie zu schaffen, die uns dann mit dem Wissen versorgt, das wir brauchen. Doch um das zu bewerkstelligen, müssen wir zunächst auf die bestehende Wissensökonomie zurückgreifen. Wird sie als Grundlage für den Aufbau neuer Wissensökonomien für das Anthropozän genügen?

Wir müssen die Entwicklung des Wissens verstehen. Wissen ist immer im Fluss. Wissenschaft, Kunst und Kultur sind Gebiete, auf denen wir Wissen erkunden können, das nicht an bestimmte Zwecke gebunden ist. Wir können hier das Wissen um seiner selbst willen, aber doch auch mit einem Bewusstsein für die Welt erkunden. Dieses Bewusstsein ist wichtig, weil sich Wissen entwickelt, wenn es mit neuen Erfahrungen und insbesondere mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird, die seine vorhandenen Strukturen in Frage stellen. Die Wissensökonomie der traditionellen Wissenschaften ist in Disziplinen unterteilt, aber die meisten Probleme lassen sich darin nicht unterbringen. Die meisten Probleme überschreiten die Grenzen und hinterfragen die bestehende Wissensökonomie. In der Vergangenheit sind die großen Revolutionen in der Wissenschaft von solchen grenzüberschreitenden Problemen ausgegangen. Der Gegensatz zwischen Mechanik und Optik hat zum Beispiel Einsteins Relativitätstheorie hervorgebracht.

Die heutigen grenzüberschreitenden Probleme können ähnlich tief greifende Transformationen des Wissens auslösen. Wir wissen das noch nicht. Aber wir müssen heute schon epistemischen Nischen schaffen, in denen solche Probleme erforscht werden können. Der Anthropozän-Campus hier am Haus der Kulturen der Welt ist eine solche epistemische Nische. Ich danke allen, die mitgeholfen haben, ihn ins Leben zu rufen!