Jurybegründung für den Preisträger / Autor

Michail Schischkin: Venushaar
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Roman, Deutsche Verlags-Anstalt 2011

„Mit „Venushaar“ ist Michail Schischkin ein Roman von stupender Komplexität und betörender Vielfalt gelungen. Als Lotse und zentrale Gestalt figuriert der „Dolmetsch“, ein Alter ego des Autors, der für die schweizerische Einwanderungsbehörde arbeitet. Die Geschichten von Gewalt und Vertreibung, die er aus dem Mund tschetschenischer und anderer Gesuchsteller zu hören bekommt, vermischen sich mit eigenen Erinnerungen an die Moskauer Kindheit und mit der Lektüre von Xenophons Kriegsbericht „Anabasis“. In kühner Schnitttechnik werden diesem Erzählstrang zwei weitere hinzugefügt: die autobiographische Reminiszenz des „Dolmetsch“ an seine Liebe zu „Isolde“ und die schmerzliche Trennung von ihr sowie das (fiktive) Tagebuch der russischen Sängerin Isabella Jurjewa, das aus persönlicher Sicht ein Jahrhundert russischer Historie mit Revolution, Bürgerkrieg, Stalinzeit wiedergibt. Die Aufzeichnungen – sie hätten dem „Dolmetsch“ als Material für eine Biographie dienen sollen – zeichnen sich durch Spontaneität und den Gebrauch der Ich-Form aus, was den Stimmenchor des Romans erweitert und auffrischt. Zu dieser Vielstimmigkeit gehören auch zahlreiche Anspielungen und (verdeckte) Zitate, was sich in verschiedenen Redeweisen, Sprachgesten und Stilvarianten niederschlägt.

„Venushaar“ ist ein Roman über private, gesellschaftliche und politische Verwerfungen, er thematisiert Krieg, Flucht, Exil, er feiert aber auch den Zauber der Liebe und der Erinnerung und steht für die Kraft des Wortes, wie schon das Motto suggeriert: „Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen.“ Schischkin zeigt sich als Sprachkünstler ersten Ranges: nicht nur hat er eine einzigartige Romanform entwickelt, er spielt mit wechselnden Perspektiven und Einstellungen, mit unterschiedlichsten verbalen Registern und Stillagen, er beherrscht poetische, satirische, elegische und sarkastische Tonarten und brilliert mit überraschenden Details. Man liest eine Chronik der Gewalt und eine Liebesgeschichte, ein Künstlertagebuch und ein Verhörprotokoll und bewegt sich zugleich in einem intertextuellen Gewebe, das diesen Roman - über seine herausragende Qualität hinaus - weltliterarisch verortet.“

Berlin, 29. Juni 2011, verliehen durch

Bernd Scherer (für das Haus der Kulturen der Welt ) und
Jan Szlovak (für die Stiftung Elementarteilchen)