Catherine David zu DI/VISIONS

Catherine David zu DI/VISIONS


Frau David, auf Ihre Arbeit als künstlerische Leiterin von documenta X folgte Ihr Langzeitprojekt „Contemporary Arab Representations“. Wie kam es zu Ihrem besonderen Interesse am Nahen Osten?

Mit documenta X und anderen Ausstellungen ging es mir darum, Verständnis dafür zu schaffen, dass bei der Auseinandersetzung mit künstlerischen Arbeiten immer der Produktionszusammenhang mitzubedenken ist. Und so habe ich mich auf die kulturellen Produktionen des Nahen Ostens eingelassen, um gewisse künstlerische Arbeiten zu begreifen. Die arabischsprachige Welt ist eines der besten Beispiele für die Unkenntnis, die in Europa noch für die modernen und emanzipatorischen Traditionen in der nichtwestlichen Welt bestehen. Im Falle des Nahen Ostens hat diese Unkenntnis besonders dramatische Auswirkungen. Von daher ist es besonders wichtig, die „missing links“ dieser Geschichte und ihre Artikulation in der Gegenwart zu erschließen.


Warum ist europäische Unkenntnis der Traditionen der Moderne im Nahen Osten denn so auffallend?

Die Moderne hat bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts im Nahen Osten, durchaus im Wechselspiel mit kolonialen Zusammenhängen, zu extrem konfliktreichen und produktiven Artikulationen geführt, die heute noch fortwirken. Die Suche nach zeitgenössischen Formsprachen hat eine lange Tradition. In den 1960er und 1970er Jahren war Beirut eine der emanzipiertesten Metropolen der Welt. Der iranische Feminismus ist bis zum heutigen Tage aktiv. Doch in den vorherrschenden Medien wird die Region als rückständiger Kulturraum dargestellt, der in einer ewigen Wiederkehr der Glaubenskriege und der politisch-religiösen Spaltungen gefangen ist. Diese generische Sichtweise agiert mit Binarismen, vereinfachenden Gegenüberstellungen: Westen bedeutet Moderne, Säkularismus, Demokratie, der Nahe Osten dagegen Rückstand, Fundamentalismus, Tyrannei. Anstatt diese Divisionen, die durch koloniale und neokoloniale Prozesse herbeigeführt wurden, ständig zu reproduzieren, gilt es, solche falschen Gegensätze zu hinterfragen und zu dekonstruieren.


Im Unterschied zu Ihren früheren Projekten geht es also bei DI/VISIONS weniger um Bilder denn darum, Künstlern und Intellektuellen aus dem Nahen Osten das Wort zu geben.

Die Gewalt im Nahen Osten bildet eine Wahrnehmungsfolie, eine Geräuschkulisse. Sie verhindert, dass Künstler und Intellektuelle, die in ihren eigenen Gesellschaften einen Raum des Widerstandes aufbauen, sich im Westen Gehör verschaffen. Angesichts der Krise in der Region ist es wichtiger denn je, dass Akteure und Beobachter von dort zu Wort kommen und ihre Erfahrungen sichtbar gemacht werden. Dafür müssen wir einen Resonanzraum herstellen. In DI/VISIONS wirken Experten aus dem Nahen Osten zusammen, die in ihrer gesellschaftlichen, politischen, historischen Arbeit einen neuen Wortschatz entwickeln. Sechs Wochen lang wird die moderne Architektur der Kongresshalle in eine Projektionsfläche und ein Forum für Gespräche verwandelt. Wer das Haus der Kulturen der Welt während DI/VISIONS besucht, kann sich auf diese Stimmen und ihre Erfahrungen einlassen - statt Klischees oder Abstraktionen: konkrete Sichtweisen und Lebenswelten. Dazu kommt ein Filmprogramm mit neueren Arbeiten, die sich mit großer konzeptioneller und formaler Genauigkeit mit der Gegenwart in der Region befassen. Während zwei Wochenenden versuchen Beobachter und kulturelle Akteure der verschiedensten Arbeitsbereiche neue Perspektiven aus der Krise zu entwickeln.


Drei Generationen, sieben Länder: Was haben Ihre Gesprächspartner gemeinsam – jenseits der Tatsache, dass sie alle Kulturschaffende in und aus dem Nahen Osten sind?

Die Auswahl erhebt ja keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Alle, die hier zu Wort kommen, kämpfen darum, einen Raum der kritischen Reflexion unter sehr schwierigen Umständen zu schaffen und zu verteidigen. In vielen dieser Länder ist es kein Spiel, Kultur zu machen. Viele zahlen dafür einen hohen Preis: Gefängnis, Exil, Verfolgungen aller Art. Es handelt sich um drei Generationen, Künstler und Intellektuelle, deren Texte, Filme, Werke oder Analysen auf oftmals kontroverse und schonungslose Form die Probleme, Herausforderungen und Hoffnungen ihrer Gesellschaften benennen, wie sie gegenwärtig im Lebensalltag zum Vorschein kommen. Jenseits von Klischees und einfachen Deutungsmustern konfrontieren uns ihre Sichtweisen mit komplexen Wirklichkeiten und mit den Paradoxien einer konfliktreichen Moderne, die auch die unsrige ist, sobald es uns nur gelingt, unsere orientalistischen Nostalgien und den Schleier unserer Illusionen abzulegen.


Ob Demokratie und Islam tatsächlich unvereinbar sind, ist eine der Fragestellungen der Gespräche und Diskussionen.

Die angebliche Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie ist eine These mit verheerenden Folgen. Das Argument wird oft verwendet, um reformistische oder radikale Vorhaben zu diskreditieren, deren politische Agenda eine Wende in der Region herbeiführen soll. Die mit dem Westen alliierten autoritären Regimes sind ihrer Selbstdarstellung nach angeblich säkulare Staaten. Mit der „islamischen Bedrohung“ rechtfertigen sie die wachsende Repression. Ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, ist eine Frage, die auf falschen Annahmen beruht, letztlich eine Fehlfrage. Denn wie alle Religionen ist der Islam nicht eine Essenz, sondern eine Praxis, die von den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen beeinflusst wird, unter denen sie stattfindet. Im Alltagsleben im Nahen Ost verhandeln die Menschen auf unterschiedlichste Weise die religiösen Vorschriften, wie jeder Katholik oder Buddhist oder Hindu es auch tut. Politisch geht es nur darum, wie die Kämpfe der Jugendlichen, der Frauen, der Intellektuellen und anderer sozialen Bewegungen Veränderungen auf der Ebene der „Governance“ bewirken. Davon wird während DI/VISIONS immer wieder die Rede sein.


Hat Ihre Arbeit im Nahen Osten Ihre Sichtweise verändert?

Nähert man sich dem Nahen Osten ohne Vorurteile, betritt man ein sehr paradoxales und verwirrendes Terrain. Bald erkennt man jedoch, dass es Fragestellungen und Diskussionsansätze gibt, die nicht nur dort wichtig sind. Wir stehen vor vielen ähnlichen Problemen: der Konsumismus, die Verschlechterung des öffentlichen Bildungswesens, der Qualitätsverlust der Kommunikationsmedien. Inwiefern ist die Kultur ein autonomer Reflektionsraum und Sender, der Alternativen durchsetzen kann? Was bedeutet die Möglichkeit einer kritischen Kultur?


Gibt es überhaupt Perspektiven, dass der alltägliche Albtraum aufhört, zu dem das Leben im Nahen Osten geworden ist?

Die Gefahr besteht darin, dass der Krieg es erlaubt, den Status Quo schönzureden: Viele autoritäre Regimes legitimieren sich damit, die Scheinalternative aufzubauen, „entweder wir oder Chaos wie im Irak”. Es ist offensichtlich, dass die amerikanische Lösung gescheitert ist, und zudem ein sehr schlechtes Beispiel statuiert hat. Und für die Menschen im Nahen Osten bietet der europäische Lösungsansatz, NGOs zu finanzieren, keine ausreichende Unterstützung für die politischen Reformprozesse, die von den Bürgern eingefordert werden. Deswegen geht es heute darum, die Frage der “Governance” zu untersuchen, dass heißt der Optionen, die sich nichtstaatlichen Akteuren bieten, die öffentlichen Angelegenheiten zu steuern und zu regeln. Welche Alternativen bieten sich, damit die Menschen selbst entscheiden und ihre eigenen Gesellschaften verändern können? So gefragt, entsteht vielleicht statt der Divisionen eine gemeinsame Vision.

Ein Gespräch mit Silvia Fehrmann, Barcelona 2007


Die französische Kuratorin Cathérine David war u. a. künstlerische Leiterin der documenta X, 1997, und des Witte de With in Rotterdam. Mit ihrem Langzeitprojekt „Contemporary Arab Representations“, das 1998 an der Fundació Antòni Tápies in Barcelona begann, hat sie zuvor in Berlin in den Kunstwerken und am HAU Projekte zum Nahen Osten vorgestellt. Zurzeit ist Cathérine David Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.