Asef Bayat: Politik der Präsenz
Die Politik der Präsenz
von Asef Bayat
Die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie ist mehr als eine philosophische Frage, sie ist ein Politikum. Sie ist ein Kampf. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob Islam und Demokratie vereinbar sind. Die entscheidende Frage ist, wie und unter welchen Bedingungen es Muslimen gelingen kann, ihre Religion mit wünschenswerten demokratischen Idealen vereinbar zu machen; wie es ihnen gelingen kann, ein offenes Verständnis ihrer Glaubenssätze zu legitimieren und popularisieren – ebenso wie Demokraten darum kämpfen mussten, eng gefasste Demokratiebegriffe (weiß, männlich, besitzend und nur vorgeblich liberal) zu erweitern.
Erfahrungen in Iran und Ägypten veranschaulichen ausführlich, wie und unter welchen Bedingungen sich muslimische gesellschaftliche Kräfte einem demokratischen Ethos öffnen können oder nicht. In Iran wurden die Frauen nach der Revolution, an der sie sich massiv beteiligt hatten, mit einem autoritären islamischen Regime konfrontiert, das Verschleierung, Geschlechtertrennung und weitgehende soziale Kontrolle erzwang. Gesetze, die vor der Revolution erlassen worden waren und Frauen wohlwollend gegenüber standen, wurden für ungültig erklärt. Die Frauen reagierten mit verstärkter Präsenz im öffentlichen Leben und besonnenen Kampagnen, die sich überwiegend religiöser Idiomatik bedienten. Durch Widerstand und Auseinandersetzungen im Alltag gelang es den Frauen, eine Lesart des Islam zu vermitteln, die Gleichberechtigung der Geschlechter und eine egalitäre Ethik befürwortete; sie lehnten die Islamisierung des Staates ab, der in die Privatsphäre eingriff. Frömmigkeit sollte eine Wahl sein, keine Pflicht. Im Gegensatz hierzu pflegten die begüterten Frauen der ägyptischen Mittelschicht eine neue Form konservativer Religiosität und aktiv gelebter Frömmigkeit. In den meisten Fällen ging sie einher mit Verschleierung, Desinteresse an der Gleichberechtigung der Geschlechter und Werten, die patriarchalische Strukturen bestärkten.
Sowohl in Iran wie auch in Ägypten hat sich die Jugend mit ähnlicher sozialer Kontrolle auseinanderzusetzen. In beiden Ländern entwarfen Jugendliche ein neues Islamverständnis, das ihrer jugendlichen Empfindungsstruktur entsprach. Im Zuge ihrer unmittelbar auf den iranischen Staat gerichteten Auseinandersetzung begründete die Jugend in Iran eine der profiliertesten Jugendbewegungen der muslimischen Welt. Der Kampf um den Anspruch auf Jugend verschmolz mit dem Wunsch nach demokratischen Idealen. Ganz anders die ägyptische Jugend – sie hatte sich mit den Restriktionen einer „passiven Revolution“ auseinanderzusetzen und plädierte für Innovation. Ihr ging es darum, die jugendlichen Forderungen in die gesellschaftlichen Gegebenheiten einzubinden. Herrschende Normen und Institutionen wurden neu bewertet, Religion und Unterhaltung miteinander verbunden und tolerantere religiöse Moralvorstellungen entwickelt. Doch diese Subkultur entstand innerhalb, nicht gegen oder außerhalb der bestehenden Regime von Moral und politischer Macht.
Die postislamistischen Intellektuellen in Iran gingen einen Schritt weiter, als systematisch zu bündeln, was muslimische Jugendliche und Frauen im Alltag zum Ausdruck brachten. Sie transzendierten die revolutionären und nationalistischen Ideologien. Sie öffneten sich ganz bewusst der Moderne, dem Pluralismus und den Menschenrechten und blieben dabei ihrem Glauben und ihrer Spiritualität treu. Ihre „postkoloniale“ Position – sie lehnten die Dichotomie eines „nationalen“ Selbst versus eines „westlichen“ Anderen ab – unterschied sie von der ägyptischen Intelligentsia, die in Nationalismus und Moralpolitik befangen war. Die ägyptischen Intellektuellen ließen sich dagegen vom „islamischen Modus“ vereinnahmen. Sie schlossen sich den gesellschaftlichen Hauptakteuren an und übernahmen deren Vokabular, das von Nativismus und konservativen Wertvorstellungen geprägt war. Nur die arme Stadtbevölkerung beider Länder schien eine erstaunlich ähnliche Politik zu verfolgen. Sie übte ihre Volksreligion aus und baute ein pragmatisches Verhältnis zu islamistischen und postislamistischen Bewegungen auf.
Statt eine Erklärung hierfür ausschließlich in den Unterschieden sunnitischer und schiitischer Glaubenssätze zu suchen, sollte man die Entwicklung vielmehr als Folge von „Revolution“ oder „sozialer Bewegung“ verstehen. Die Erklärung liegt in der Tatsache, dass Iran eine islamische Revolution ohne islamische Bewegung erlebte, während Ägypten eine islamische Bewegung ohne Revolution entwickelte.
Aus: Asef Bayat: „Making Islam Democratic. Social Movements and the Post-Islamist Turn“, Stanford, 2007