Amnon Raz-Krakotzkin: Die Negation der Diaspora
Die Negation des Exils und das zionistische Bewusstsein
von Amnon Raz-Krakotzkin
Die Negation des Exils ist seit jeher ein zentrales Konzept, an dem sich die Grundzüge des zionistischen Bewusstseins, das Geschichtsverständnis, das Kollektivgedächtnis und die israelische Politik orientieren. Das Konzept der Negation des Exils muss im Zusammenhang mit ihrem Gegenstück reflektiert werden, der vom der zionistischen Bewegung eingeforderten „Rückkehr zur Geschichte“. Zwar sind diese beiden Konzepte nicht identisch, doch sie verbinden und ergänzen sich und werfen Licht auf das Selbstverständnis des Zionismus und des Staates Israel.
Die Negation des Exils zielt nicht etwa auf die Verneinung der Existenz unterschiedlicher jüdischer Lebensformen im Laufe der Geschichte, sondern verneint vielmehr deren Historizität. Dahinter steht das Bestreben, das jüdische Volk als Nation im modernen Sinn zu definieren. Es gilt, die jüdische Geschichte als Nationalgeschichte zu präsentieren, darum, eine Nationalgeschichte der Juden zu schreiben. Offensichtlich haben die Juden keine gemeinsame Geschichte, obwohl sie vieles gemeinsam haben: Am ehesten ließe sich sagen, dass sie eine „imaginäre Gemeinschaft“ bilden. Diese „imaginäre Gemeinschaft“ beruhte allerdings auf einem Gesetz und nicht auf einer gemeinsamen Geschichte, sondern vielmehr auf einer Geschichtsverweigerung.
Um die Geschichte der Juden als Nationalgeschichte schreiben zu können, als eine Geschichte der Siegenden, war es nötig, die Juden aus ihrem Lebenskontext herauszulösen, aus ihrer Sprache, ihrem kulturellen System, den kulturellen Vorstellungen, die ihr Leben bestimmten – all diese Aspekte als bedeutungslose, leere Hülle zu betrachten. Was als Historisierung der Juden bezeichnet wurde, war im Grunde ein Akt der Dehistorisierung, ein Auslöschen des Kontexts, der sich unmittelbar aus der antisemitischen Auffassung des kontextlosen Judens herleitete.
Die Negation der Geschichte des Exils galt für die Geschichte aller Juden –derer in Europa ebenso wie derer in den islamischen Ländern. Da der zionistische Diskurs, der sich als europäisch verstand, jedoch eine höchst orientalistische Dimension gewann, waren die Folgen für Juden in islamischen Ländern weitaus tief greifender. Die Wandlung des jüdischen Bewusstseins, die zur Negierung des Exils führte, ist im Grunde nichts anderes als die Übertragung jüdischer Konzepte auf eine moderne Geschichtsauffassung, die sich explizit mit dem Okzident identifiziert und sich in Opposition zum Orient versteht.
Paradoxerweise bringt der Umstand, dass ein Jude Europa verlässt und sich im Nahen Osten niederlässt, ebenso seine Wandlung, wie auch seine Zugehörigkeit zum Okzident zum Ausdruck. Der Zionismus übernahm die Prinzipien, nach denen sich die europäische Kultur definiert hatte, indem sie die Juden ausgrenzte. Im Grunde richtet sich die Negation des Exils darauf, alles zu verneinen, was im Jüdischen bisher als orientalisch galt. Dass die orientalischen Juden weder einen Platz in der zionistischen Vision hatten, noch in die Definition des jüdischen Volkes einbezogen wurden, erklärt sich aus dem Entstehen der zionistischen Ideologie in Europa und ihrem Ziel, die Juden zu deorientalisieren.
Der Begriff des Orientalismus, wie ihn Edward Said geprägt hat als okzidentaler Blick auf den Orient, ist von grundlegender Bedeutung, um den Zionismus, ebenso wie die potenzielle Annäherung der Konzepte von Exil und Binationalismus', verstehen zu können. Da das israelische Nationalbewusstsein auf einer Verknüpfung von Theologie und Orientalismus beruht, suchen seine Kritiker nach alternativen Kategorien, um diese beiden Dimensionen zu ersetzen. Das Konzept des Binationalismus, also der Wunsch, freundschaftliche Bande zwischen Juden und Arabern zu knüpfen, ist eine unmittelbare Gegenbewegung zu einem Bewusstsein, das Juden und Araber als einen grundlegenden Gegensatzpaar begreift.
Auszug aus: Amnon Raz-Krakotzkin: „Exil et souveraineté. Judaïsme, sionisme et pensée binationale“, La fabrique, Paris, 2007