Hell / Baumann
Von Zukunft_Erinnern zu Eidos_Tao
Ein Tanz-Projekt zum Thema Schönheit zwischen Berlin und Shanghai
Jutta Hell und Dieter Baumann konfrontieren für "Eidos_Tao" vier Tänzer des Jin Xing Dance Theater aus Shanghai mit Material des Gerhard Bohner Projekts "zukunft_erinnern_". Gerhard Bohner (1936–92) wurde vor allem durch seine Soloarbeiten zu einem wegweisenden Erneuerer des Tanzes. Konzentration, Reduktion, die Auseinandersetzung mit Bauhaus-Traditionen, die Verbindung von Emotion und Abstraktion sind die Begriffe, die diese Arbeiten kennzeichnen. 1991 brachte Gerhard Bohner in Kooperation mit den Berliner Tänzern und Choreografen Jutta Hell und Dieter Baumann seine letzte Choreografie SOS zur Uraufführung. Videomaterial, das die Tanzfilmerin Cosima Santoro kurz vor Bohners Tod von seinen Proben für eine neue Arbeit aufgenommen hatte, bildete 2003 die Grundlage für "zukunft_erinnern_", einen Dialog zwischen Dieter Baumann und Gerhard Bohner unter der Regie von Jutta Hell. Nun führt "Eidos/Tao" diese Auseinandersetzung auf einer interkulturellen Ebene weiter.
Jutta Hell: Wir versuchten, Bohners Werdegang zu vermitteln, auch um zu erklären, dass seine Bewegungssprache sich bereits sehr weit entfernt hat von dem, was in China an Tanzsprachen bekannt ist und benützt wird. Er ist an die Essenz gestoßen und mit ganz wenig Bewegungsmaterial ausgekommen, das dennoch ausreichend für seine Stücke war.
Dieter Baumann: Wir haben mit einer kleinen Gruppe von vier Tänzern gearbeitet, die uns offen schienen, sich auf etwas einzulassen, was ihnen nicht unmittelbar zugänglich oder bekannt war. Was bedeutet es zu "reduzieren"? Was heißt es, eine Bewegung genau auszuzählen, mit dem Atem zu zählen? Am Anfang des Stückes gibt es eine bestimmte Anzahl von Rückwärtsschritten, ein Eintauchen in den Raum - auf den ersten Blick sieht das nicht so schwierig aus; aber die Koordination zwischen dem genauen Zählen und dem Atmen ergibt ein Spannungsverhältnis im Körper, damit der Schritt sozusagen aus dem Körper heraus in den Raum hineinfällt - das war eine sehr herausfordernde Sequenz für die Tänzer. Es hat lange gedauert, bis sie verstanden haben, wo der Unterschied liegt: ob die Bewegung "richtig" ist, oder nur nachgemacht.
JH: Über diesen Bogen sind wir zu der Diskussion gekommen, wie wir im europäischen Raum Bewegung eher vermissen ...
DB: ... und analysieren. Aber auch auf die europäische Tanzgeschichte, die an einen Punkt kam, wo sie bestimmte Formen aufbrechen wollte. Was es ja in diesem Sinne in China nicht gibt. Aber gerade hier kam es zur Beschäftigung mit dem Phänomen Schönheit. In der Reduktion, in der Einfachheit, in der das Wesen einer Form zu finden ist, steckt ein Aspekt von Schönheit. Eine derartige Beziehung von Form und Schönheit ist sehr europäisch und in China etwas Herausforderndes, das eine große Konzentration verlangt. Auf die Frage "Ist das für Euch anstrengend?" kam die Antwort: "Nicht für den Körper, aber für den Kopf."
JH: Die chinesische Form ist rund, alles kommt zum Anfang zurück, die Kreise schließen sich. Unsere Bewegungsformen sind viel geradliniger, es gibt nicht dieses Harmonieverständnis. Wir arbeiten mit Brechungen. Das ist für Körper, die jahrelang auf dieses Harmonieverständnis hin getrimmt worden sind, wie eine Fremdsprache.
DB: Für uns bestand die Aufgabe darin, dieses Bewegungsmaterial als Grundlage zur Verfügung zu stellen, als Material, und dann zu fragen: Wo gibt es für die Tänzer Möglichkeiten, mit diesem Material auf ihre eigene Kultur zu reflektieren, auf ihr Bewegungswissen? Wir haben sie gebeten zurückzugehen, nicht in ihre moderne Tanztradition, sondern auf Wissen aus den traditionellen Ausbildungen, die sie durchlaufen haben.
JH: Als wir über die Form, Eidos gesprochen haben, haben wir gefragt, ob es bei Ihnen eine Entsprechung dafür gibt. Die Antwort war: "Wenn wir von innen nach außen denken, haben wir Tao2. Hinzu kam die Frage eines Tänzers: "Bei Euren Formen, wo taucht da die Emotion auf?" Nach einem langen Gespräch haben wir festgestellt, wenn er Tao mit Eidos verbindet, braucht er nichts weiter zu tun, braucht nicht an seine kranke Großmutter zu denken, wenn er ein schlimmes Bild tanzen will, sondern es existiert im Körper. Dadurch wurde die Sache für ihn viel einfacher. Keine Grimassen mehr, nichts Überflüssiges.
DB: Grundsätzlich sind mit der Kulturrevolution viele kulturelle Werte oder Zugänge zur Kunst abgeschnitten worden, sodass lange Zeit Künstler, wenn überhaupt, in dieser Art des Realismus arbeiten mussten.
JH: In China gibt es seit Jahrzehnten Revolutionsballette. Auch jetzt versucht man noch, Geschichten zu tanzen - zu einer Zeit, da in Europa die Form aufgelöst wird.
DB: Europa ist demgegenüber mehr in einem Auflösungsprozess begriffen, in dem Versuch, Energie zu spüren. Die Techniken des zeitgenössischen Tanzes wie Release oder Body Mind Centering drehen sich um dieses Spüren von Energiefeldern im Körper, die feinstofflicher sind als die Formen des Balletts, die sich sehr stark an den äußeren Körper knüpfen. Schönheit bezieht sich in Europa eher auf den Einzelnen, die Chinesen haben hingegen eine viel größere Affinität, sich als Teil von vielen zu sehen. Was wiederum, um noch einen Haken zu schlagen, genau das Interessante an diesen beiden Stücken ist. In "Eidos_Tao" präsentieren sich vier einzelne Tänzer, "Shanghai Beauty" dagegen hat immer wieder die Absicht, einen Gesamt-Körper herzustellen, aus dem sich viele Körper herauslösen können.
DB: In Europa ist mit dem Begriff Schönheit eine Fragmentierung verbunden: Körper, die zerlegt und wieder harmonisch zusammengesetzt werden. Das ist Aktmalerei nach ganz bestimmten Proportionsgesetzen, bei denen Mathematik eine große Rolle spielt. Die Proportionalität eines harmonischen Körpers ist gebunden an Zahlenverhältnisse. Dieses Phänomen existiert heute noch, auch wenn es viele zeitgenössische Maler brechen. Jeder kommt aus der Schulung des Formbewusstseins, zumindest eine Zeitlang auch über den nackten Körper, das Aktmalen: Der Goldene Schnitt. Von da kam der Impuls, sich durch verschiedene Körperpartien hindurchzuarbeiten: Zuerst entwickelt man kleine Tänze, Etüden, die sich ganz spezifisch mit bestimmten Körperteilen beschäftigen, Arm, Kopf, Rumpf, Becken ... Die Tänzer beschäftigen sich mit dem Phänomen der Bewegungsfähigkeit eines Teils ihres Körpers und fangen an, daraus zu improvisieren und eine Bewegungssequenz zu erfinden.
Daraus entwickelte sich auch eine Idee des Umgangs mit dem Raum. Den Raum - anlehnend an Labans Theorie von den 27 Raumpunkten - nicht als Ganzes zu sehen, sondern ihn zu zergliedern. Wir haben mit der Zahl 24 gearbeitet, um daraus, vom äußeren Raum ausgehend, Bewegungen zu generieren. Und das Gleiche dann umgedreht - wenn bei einem Raumgefühl, das so zergliedert ist über definierte Punkte, eine Bewegung von innen heraus kommt, wenn man aus dem Zentrum des Körpers denkt und nicht aus der Peripherie. Im Bauhaus wurde ein großer Entwurf über die Form geliefert, wo die Begriffe Punkt, Linie, Fläche als Reduktionsparameter eine große Rolle spielten. Und dann auch in der Entwicklung der Moderne und der Abstraktion. Darüber kann man auch mit dem Körper arbeiten.
JH: Man kann überall Punkte setzen, eine Fläche zwischen den Armen aufziehen, eine Fläche vom Boden hochziehen oder Linien ziehen mit dem Arm, den Füßen, mit dem Becken. Das war für die Tänzer eine sehr interessante Erfahrung, weil sie etwas Konkretes hatten, nämlich die Vorstellung von Punkt, Linie oder Fläche. Und mit diesem Hilfsmittel eröffnete sich ihnen die Möglichkeit zu improvisieren.
DB: Eine Vision wäre, wenn es gelänge, dieses Oszillieren zwischen der Gruppe als einem Körper und den einzelnen Körpern zu fassen: Ich nehme Teile - Bewegungen der Wirbelsäule oder Bewegungen des Arms oder des Beins zum Beispiel - sie differenzieren sich aus und kehren dann wieder zurück in den ganzen Körper. Die andere Form der Differenzierung ist, dass Einzelne bestimmte Motive fortsetzen und transformieren in eher solistische Gebilde, bis sie an einer bestimmten Stelle ankommen, die dann wiederum von der Gruppe aufgenommen und weiter transformiert wird. Auf der einen Seite ein Durchgang durch den Körper in seinen verschiedenen Segmenten und Teilen und auf der anderen auch immer ein Weitergehen, eine Transformation. Das Begriffspaar Eidos und Tao bringt es auf den Punkt. Wenn es gelingt, das in Bewegung zu konkretisieren, sich - ohne eine Geschichte zu haben - auf die Kraft der Körper zu verlassen, und wenn sich dann aus dieser Kraft, aus der Form und der Harmonie Schönheit komponieren lässt, könnte es gelingen, etwas zu fühlen, auch wenn man die Worte nicht kennt. Man realisiert die Qualität von Schönheit, wenn Schönheit für einen selber existent, wahrnehmbar, sichtbar ist als erhebende Situation, die man vielleicht im Nachhinein reflektiert und sagt, ja, da tauchte Schönheit auf.
Das Interview mit Jutta Hell und Dieter Baumann führte Björn Dirk Schlüter im Herbst 2004.