2019: Was passiert zwischen 0 und 1?
Wie lässt sich der transdisziplinäre Ansatz des HKW auf eine Formel bringen, die neugierig macht? Im Jahr 2019 profiliert sich das HKW als das Haus für Gegenwartsforschung. Das aufgebaute Wissen der letzten Langzeitprojekte Das Anthropozän-Projekt und 100 Jahre Gegenwart fließt ineinander und sorgt für neue Achsen des Erkenntnisgewinns. Obwohl beide Programme weiterleben, kommt ein neuer, gewichtiger Aspekt hinzu: Mit Das Neue Alphabet beginnt ein neues dreijähriges Abenteuer der Gegenwartsforschung, in dem der Blick vor allen Dingen auf die Auswirkungen von Digitalität auf das menschliche Denken, Handeln und Sein gerichtet wird. In den Koordinaten dieser drei Forschungsstränge erreicht das HKW, wie es Bernd Scherer gestaltet hat, ein Moment der Reife. „Zwischen 0 und 1 passiert das Leben“, bringt er auf den Punkt. Diese Aussage macht zum einen deutlich, wie stark Digitalität das Leben eines Großteils von Menschen in Industrienationen rahmt und beeinflusst. Es spielt aber auch darauf an, dass der binäre Code nicht als unumstößliche technische Realität zu sehen ist, die von der Kultur nur reflektiert wird. Deutlich schwingt die Erkenntnis mit, dass Digitalität nicht allein technische sondern vor allem eine kulturelle Entwicklung ist, und dass es die Aufgabe der Kultur ist, den Raum zwischen Null und Eins auszudifferenzieren. Insofern ist es auch eine Absage an binäres Denken zwischen Alt und Jung, Schwarz und Weiß, Mann und Frau usw. Das Leben spielt sich zwischen den Polen ab. Die Programme Life Forms und Körper lesen! versuchen diese Politisierungen in künstlerische Ausdrucksformen, innovative Denkmuster und pädagogische Praxen zu übersetzen. Was bedeutet Leben überhaupt noch, jetzt und in der Zukunft? Wann brauchen wir Menschen-, wann Cyborgrechte? Wie entwickeln wir intersektionale Pädagogiken, die analoge und digitale Identitäten gemeinsam zu denken in der Lage sind?
Dies fällt nicht zufällig mit dem 30-jährigen Bestehen des HKW zusammen. Zusammengedacht mit dem Mauerfall vor ebenfalls 30 Jahren kann auf eine sich an Brüchen und Veränderungen orientierende institutionelle Geschichte zurückgeblickt werden, die sich stets innerhalb fluktuierender politischer Allianzen neu formt.
Die politische Umgebung verhärtet sich 2019: Erstmals werden Einsatzpläne gegen Wortergreifungen von Rechten bei Veranstaltungen ergriffen. Übergriffe sind inzwischen in Kultureinrichtungen beinahe überall bekannt oder erfolgt. Als Reaktion auf die Entpolitisierung des Bauhauses zu seinem 100. Geburtstag, verstärkt durch die Ausladung einer Punkband durch die Direktorin des Bauhaus Dessau, fühlt das HKW die Notwendigkeit einer politischen Stellungnahme: Schon im Januar wird mit der Veranstaltung Wie politisch ist das Bauhaus? die Repolitiserung dieser Institution begonnen und im Laufe der folgenden Ausstellung bauhaus imaginista weitergetrieben. Diese Ausstellung wurde dazu besucher*innenstärkste Ausstellung des HKW der letzten 20 Jahre. Diese sich stets deutlicher formulierende politische Haltung setzt sich im September fort, wenn bei einer Partnerveranstaltung ein Jahr nach der Urteilsverkündung im sogenannten NSU-Prozess auf die Auswirkungen und Entwicklungen, aber vor allen Dingen auch auf den bleibenden institutionellen Rassismus geschaut wird.
Neben der Notwendigkeit, planetarische Zusammenhänge im Blick zu behalten, geht es immer darum, auch bewusst mit der eigenen institutionellen Position umzugehen. Wie verhält sich ein Haus für Gegenwartsforschung zu einem neuen Futurium in unmittelbarer Nachbarschaft? Welche Position im postkolonialen Diskurs kann in der Vorbereitungsphase zur Eröffnung des Humboldt-Forums eingenommen werden? In der Verbindung von Musik, Lebensfreude und kritischem Diskurs wird dies innerhalb der Wassermusik 2019 zum Thema Black Atlantic Revisited wohl am sinnlichsten zu einem lebendigen Ausdruck gebracht, wenn der Gesang von Gilberto Gil mit den scharfen Analysen Paul Gilroys zusammenklingt.
Während nach dem Sommer eine öffentliche Debatte zu den Politiken des Humboldt Forums tobt, zu Restitutions- und Repräsentationsfragen, entsteht im HKW eine Konstellation dreier Ausstellungen, die postkoloniale Fragestellungen produktiv in Szene setzt. Liebe und Ethnologie, Afro-Sonic Mapping, Spektral-Weiß kreisen um das postkoloniale Herz des HKW. Mit dieser Treue zur Essenz verbunden mit neuen Impulsen durch DNA verzeichnete das HKW eines der besucherstärksten Jahre seiner Geschichte.