Das HKW wird 30 Jahre alt
In den letzten 30 Jahren nach dem Mauerfall hat sich die Welt grundlegend verändert. In diesen 30 Jahren hat das Haus immer wieder neue Formen und Inhalte entwickelt, die sich mit diesem Wandel auseinandersetzen – nicht selten als Vorreiter.
In den 1990er Jahren öffnete das HKW den Blick für die nicht-europäische Welt und konfrontierte das Publikum mit in Deutschland kaum thematisierten Weltsichten und Problemlagen. Auf die Kritik, dass im Wesentlichen deutsche Kurator*innen verantwortlich waren, reagierte es Ende der 1990er Jahre mit Einladungen von Kurator*innen wie Okwui Enwezor, Paul Gilroy und Yu Yeon Kim. Die Verschiebung der kuratorischen Repräsentationsmacht ging einher mit der Auseinandersetzung mit den kolonialen Vergangenheiten Europas. Wie relevant dies noch heute ist, zeigt sich bei den derzeitigen Diskussionen um das Humboldt Forum.
Im letzten Jahrzehnt wurden diese Entwicklungen überführt in eine Beschäftigung mit den großen Transformationsprozessen unserer Zeit. Das Anthropozän-Projekt thematisiert seit 2013 die tief greifenden Eingriffe des Menschen in den Planeten Erde: Er destabilisiert das Erdsystem. Klimawandel, Rückgang von Biodiversität und natürlichen Ressourcen, verschmutzte Meere sind die Folgen. Wie sich der menschliche Einfluss konkret auswirkt, untersucht das HKW derzeit am Mississippi. Mississippi. An Anthropocene River betrachtet die Flussregion als Symbol für das Eingreifen in die Natur und Beispiel für die sozialen, ökologischen und technologischen Wechselwirkungen im neuen Erdzeitalter.
100 Jahre Gegenwart setzt sich seit 2015 mit den Veränderungen des Zeitbegriffs auseinander. Ein Zeitverständnis, das auf dem Nacht-Tag-Unterschied und dem Wechsel der Jahreszeiten aufbaute, wurde schrittweise ersetzt durch einen mit Uhren messbaren Zeitbegriff. So konnte ein standardisierter Maßstab an menschliches Tun angelegt werden, der im 20. Jahrhundert eine nie gekannte Beschleunigung aller Lebensverhältnisse beförderte. Genau dieser Zustand eines Lebens im Dauersprint führt zu einer Sinnentleerung, die sich zunehmend krisenhaft in unseren Gesellschaften artikuliert.
Das Neue Alphabet stellt seit Anfang 2019 die Transformation unserer Welt durch die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien ins Zentrum. Sie dringen in alle Lebens- und Arbeitsbereiche ein und führen zu disruptiven Veränderungen. Wir sind über Computer und Smartphones an eine Welt von Algorithmen angeschlossen, die wir nicht mehr kontrollieren, ja noch nicht einmal verstehen. Als Geschäftsmodelle von hoch spezialisierten Programmierer*innen entwickelt, gehören sie zu weltweit operierenden Firmenkonglomeraten.
Diese Transformationsprozesse befördern diffuse Ängste. Sie richten sich nicht auf einen Gegenstand, sondern verweisen auf einen Kontrollverlust, weil die gegenwärtigen Entwicklungen nicht mehr zu verstehen und noch weniger zu beherrschen sind. Diese Ängste werden von neonationalistischen Parteien und Gruppierungen kanalisiert und funktionalisiert. In dieser Situation ist solidarisches Handeln das Gebot der Stunde. Die Antwort des HKW besteht in Zusammenarbeiten mit Gruppen und Personen wie den Familien der NSU-Opfer, aber auch anderen engagierten Kultur- und Gesellschaftsakteur*innen national und international.
Es bedarf neuer Widerstandsformen und alternativer Denk- und Lebensmodelle. Dazu möchte das HKW beitragen.
Bernd Scherer
Intendant