1957: Einweihung: Ist das Amerika?

„Die Alte und die Neue Welt“ – Adorno, Thornton Wilder, Martha Graham beim Eröffnungsprogramm

September 1957, "Sehleute" an der neuen Kongresshalle, Foto: Landesarchiv Berlin / Horst Siegmann, 1957

Wie bei einer Schiffstaufe zerschellt eine Champagnerflasche an einem der beiden Pfeiler, die das symbolhafte Dach der Kongresshalle tragen. Vormittag, 19. September, die fünftägige Einweihungsfeier hat begonnen. Zwischen diesen Pfeilern sehen die Ehrengäste die weiße Fläche des Stahlbetondachs hängen, seine Flügel aufgespannt durch geschwungene Randbögen. Noch vor ein paar Tagen haben West-Berliner Zeitungen gerätselt, ob alles rechtzeitig fertig wird. Aber Architekt Hugh Stubbins ist am Ziel. Nach einem schockierenden Besuch in Ost-Berlin hatte er 1954 als Programm seines Entwurfs entwickelt: Zeichen setzen. Dass Grenzen überschritten werden können - in einer Stadt, die wie gefangen ist. Dass nichts unter einem solchen Dach die Entwicklung neuer Ideen hemmt. Der Gefühlswert des Designs werde wagemutig, vollkommen frei sein. Den Statikern war das denn doch zu gewagt, sie verordneten dem Dach einen versteckt abstützenden Hilfsbetonring. Diese Stütze wird dann Anlass heftiger Debatten unter den führenden Architekten Europas – und einer Katastrophe, die aber an diesem Tag noch fast 23 Jahre in der Zukunft liegt. Jetzt weiß man nur: Es ist modernste Technologie angewandt worden. Die Formensprache von Zelt und Kuppel, wie sie gerade bei wegweisenden internationalen Großbauten von Flugplätzen oder Sportstadien erprobt werden, ist hier kombiniert. Und das in einer Stadtlandschaft voller Ruinen. Das Innere der Kongresshalle, in dem sich die Ehrengäste bewegen, entspricht vollständig dem Anspruch umfassender Kommunikation: Weite Flächen, in denen sich die Menschen begegnen. Dolmetscherkabinen, Rundfunk- und TV-Einrichtungen, Telefonanlagen, wie sie zu dieser Zeit nur im UN-Gebäude in New York vorhanden sind. Und auch das Auditorium ist dem der Vereinten Nationen nachempfunden.

Im Zentrum der Eröffnungstage steht ein Kulturprogramm mit Konzerten, Theater, Tanz, einer Fotoausstellung und vier Diskussionsrunden zu den Künsten, zu Wissenschaft und Erziehung und unter dem Titel „Die Alte und die Neue Welt“ zu den transatlantischen Beziehungen. Adorno spricht, Thornton Wilder, Blacher, Isamu Noguchi. Diese „Events“ setzen den Anspruch der Symbolarchitektur und der Eröffnungsreden in einer Weise um, die die deutsche Kritik überrascht. Erklingt europäische Klassik, wird sie wegen hoher Qualität des Orchesters, der Stimmen und dann auch wegen der Akustik des neuen Saals gelobt. Aber schon die amerikanische zeitgenössische Musik verschreckt. Und die Serie von sieben Einaktern am zweiten Tag, die Wilder ausgewählt hat und als Moderator einführt, findet ein ratloses Echo. Da geht es „düster und monoton“ zu, Kleinstädte voller Langeweile, Rassenfragen, Kriminelle, Eheleute am Rande des Suizids. Sollte das das wahre Amerika zeigen? Und der Tanz von Martha Graham bekommt Applaus wegen der Körperbeherrschung, ist deutschen Medien aber zu wenig Gefühl, zu viel Analyse. Dies – so kommt es einem 50 Jahre später vor – war ein ganz spezielles Propaganda-Programm, eins für kontroverse Diskussion.

Erwartungsgemäß wenig kontrovers fallen dafür die Eröffnungsreden und Grußbotschaften am 19. September aus. Sie folgen dem Tenor, den der amerikanische Außenminister fast zeitgleich an anderer Stelle vorgibt. Während seine Schwester Eleanor in Berlin die Kongresshalle miteröffnet, klagt John Foster Dulles in der Generaldebatte der UN die UdSSR wegen der zunehmenden Spaltung Deutschlands an. Die wird, entnimmt man den Berliner Zeitungen, an diesem Abend von vielen tausend Ost-Berliner Schaulustigen ganz praktisch überwunden, die zur neuen Kongresshalle pilgern. Und sich an den folgenden Tagen ihre Nasen an den großen Scheiben plattdrücken.
Axel Besteher-Hegenbart

New York Times 25.6.57
Der Abend 10.9.57
Berliner Morgenpost 20.9.57
Der Tagesspiegel 21. + 22.9.57
New York Times 21. + 29. 9.57