Als das HKW noch Kongresshalle war

„1980. Ich war noch nicht einmal neun Jahre. Ich war ein Mauerkind und Berlin war meine heile Welt. Die Mauer selbst war einfach da, wo sie hingehörte, Schauplatz von Wandertagen, bemaltes Fragment als Zeitzeuge, in einer Zeit, in der die Zeit für mich endlos schien. Der einfache Westberliner Wohlstand war für mich selbstverständlich. Das einzige, was grau war, waren die Winter. Und selbst die erscheinen im Rückblick weißer als heute.

Mein elterlicher Haushalt las die Springer-Presse, die mir meist in schwarz/weiß und großformatig illustrierte, was in der Inselstadt, die mir in ihrer Hälfte schon riesig erschien, passierte. Schleyer und Mogadischu waren für mich Jahre zuvor kleine Geschmacksknospen der Schutzlosigkeit da draußen, denn die Aufregung meiner Eltern waren Verwunderung, Verunsicherung und Ahnung zugleich. Aber im kindlichen Gemüt abstrakt, so dass die damalige Zeit erst im Rückblick als so ernsthaft herausstellte. Merkwürdiger Weise war der Einsturz der Kongresshalle ein erinnerungswürdigerer Augenblick. Inmitten eines Bindegliedes zum Erwachsenendasein. Dies zwar noch weit entfernt – denn das immer noch Abstrakte in meiner fantasiehaften Welt malte seine eigenen Bilder, – doch scheinbar in baldiger Nähe… Die BZ zeigte die trauernde Fassade auf der Titelseite.

Kein Lächeln mehr, eine Fratze. Eine traurige Fratze, deren Zähne resignierend nach unten zeigten. Ein Toter inmitten dieses tragisch entstellten, fest verschlossenen Gebiss', das nicht mehr zu öffnen schien. Zum ersten Mal las ich, was in dieser Halle stattfand, das die Form, die sicherlich Auslöser der kindlichen Assoziation wie ‚freundlich‘ war, gleichzeitig Schuld zu tragen schien, das sie nun dalag. Darnieder gestreckt. Bilderstrecken, die Abendschau, Rückblicke. Was gestern war, schien zum ersten Mal für mich erschreckend. Denn Vergänglichkeit in dieser Form war neu für mich. Meist gab es nur ein hier und jetzt. Ich las die einfach verständlichen Beiträge immer wieder, malte mir aus, was passierte, streichelte die gedruckten Vergangenheitszeugen der Schönheit. Das Hinauf und Hinab, die achterbahnähnlichen Formen. Sie schien zu seufzen. Meine Eltern zeigten sich sichtlich überrascht, wie mich dieser Anblick zutiefst betrübte.

Als lange Zeit später beschlossen wurde, die Kongresshalle solle wiederbelebt werden, war ich elf und fand, das Thema möge ruhen. Sie war weg, die schöne wellenformige Muschel inmitten des Grüns. Aus und vorbei. So, wie viele aus meinem Umfeld. Wie solche es meinten, die alt genug waren, sich eine Meinung zu bilden. Und – traurig? Traurig machte mich diese Geschichte lang nicht mehr.

Und doch: Irgendwann war sie wieder da. Einfach so. Trotz Berliner Palawer über Pro und Contra. Trotz finanzieller Summen-Schlachten. Da war sie wieder. Mit Pauken und Trompeten feierte Berlin sich selbst. Die vielen Fremden und das mediale Interesse an Berlin waren zu viel für meine idealistische, subkulturelle Seele. Schließlich war das meine Stadt, die in ihrer neuen Eitelkeit an Charme zu verlieren drohte. Mit sechzehn.

Und nur einen Augenschlag später war alles anders. Sie stand dort und hieß auf einmal Haus der Kulturen der Welt. Und sie stand nicht mehr dort, wo sie vorher stand, am Rande des Tiergarten. Ende 1989 stand sie mittendrin. Auf einmal sah ich sie öfter als in all den Jahren zuvor. Sie war nicht mehr einfach wieder ‚da‘, sie war ‚hier‘. Und ich in ihr. Ganz ungewöhnlich in ihrer Vielfalt und doch so ganz normal. Sie war nicht mehr nur Lächeln, sie war nicht mehr nur Fratze, sie war Trotz. Mein nächstes Jahrzehnt stand an und dieses schien viel versprechend.

Nun, da Berlin so ist wie es ist, wenn auch immer nur für kurze Zeit, so stellt die schwangere Auster für mich den Lauf dieser Stadt dar. Die Stadt, in der ich groß wurde und der ich alt werden möchte. Frau Merkel kann uff dir spucken, der Reichstag hat schon eine halbe Berlin-Ewigkeit seine Kuppel, heißt aber nur noch auf den Straßenschildern so und an der neuen Peripherie dieser Stadt wird ebenso lang gebaut wie über Flughäfen diskutiert. Ich klicke – durch den ‚50 Jahre Kongresshalle/Erinnern Sie sich‘- Aufruf animiert – durch ihre Bilder auf der Website und dafür gibt mir die gute alte Kongresshalle spontan eine ganz persönliche Geschichte zurück. Eine ganz einmalige. Meine.“

Martina Kupke
28. Dezember 2006