Lesung

E. L. Doctorow

Downtown, Uptown, Crosstown - Literatur aus New York

Mo 15.10.2007
20h
Eintritt: 5 €, ermäßigt 3 €

Aus der deutschen Übersetzung liest Boris Aljinovic.

E.L. Doctorow , (c) Kurt Steinhausen

Zehn Protagonisten der Literaturszene New Yorks lesen im Haus der Kulturen der Welt: berühmte Stimmen und Newcomer, Romanautoren und Lyrikerinnen. Vielstimmigkeit in jeder Hinsicht - diese Autoren eröffnen Einblicke in die Vielfalt der kulturellen, ethnischen und sozialen Zugehörigkeiten, die das Zusammenleben in New York ausmachen. Sie erzählen von Lebenswelten zwischen den Kulturen, von Erfahrungen am Rande der Gesellschaft und suchen nach Formen, um die Komplexität unserer globalisierten Gegenwart zu fassen.


1931 wurde E. L. Doctorow in der New Yorker Bronx als Sohn russischer Juden geboren. Das Erbe der musikalischen und literarischen (Hoch)Kultur Europas klingt in der komplexen Komposition und den reichen Bezügen seiner historischen Romane an. Der internationale Durchbruch gelang ihm 1975 mit „Ragtime“, einem Roman um die sozialen Spannungen im New York der Jahrhundertwende, es folgten „Billy Bathgate“ und „City of God“. Im Haus liest Doctorow aus seinem neuesten Roman „The March“, einem grandiosen Epos aus dem amerikanischen Sezessionskrieg, 2006 mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnet.

Moderation: Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung)



Über E.L. Doctorow

E.L. Doctorow gehört zu den wichtigsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Er wird gefeiert für seine Schilderungen der amerikanischen Lebensumstände (besonders des Lebens in New York) im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte und Sozialkritik vermischen. Doctorow erhielt für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den National Book Award für The Book of Daniel (1971) und den National Book Critics Circle Award für Ragtime (1975). Für Billy Bathgate (1989) und The March (2005) nahm Doctorow den PEN/Faulkner Award entgegen. Seit der Veröffentlichung von Ragtime ist Doctorow auch international bekannt. Doctorow wurde in New York während der Depression geboren und wuchs dort auf. Seine Eltern waren beide Kinder von russisch-jüdischen Migranten, die in den 1880ern übersiedelten. Nach seinem Studium am Kenyon College in Ohio, setzte er sein Studium an der Columbia University fort. 1953 wurde er von der Armee einberufen und in Frankfurt stationiert. Nach seiner Rückkehr war er als Skriptleser bei Columbia Pictures angestellt. Seit 1969 widmet sich der Autor dem Schreiben und der Lehre. Doctorow lebt in New York und lehrt an der New York University.



Appetizer

"Die erste Stadt, die Pearl je gesehen hatte, war Milledgeville, doch das war nicht so prächtig wie dieses Savannah, mit den kleinen Parks überall, jeder Brunnen, Eisengeländern und großen alten, moosbewachsenen Lebenseichen, mit dem imposanten Gerichtsgebäude und Zollhaus und den Schiffen im Hafen. Und tatsächlich war in einigen Straßen das Kopfsteinpflaster aufgebuddelt und an den Ecken zu Steinwällen aufgehäuft worden, damit die Soldaten der Konföderation dahinter in Deckung gehen konnten, aber dazu kam es nicht. Sie waren über den Savannah River geflohen, um irgendwann anders weiterzukämpfen. Längs der Uferpromenade lagen Lagerhallen und offene Speicher, wo die Unionsgruppen Lebensmittel abluden. Die Sonne schien, und Pearl fuhr mit Miz Emily in einer Kutsche wie derjenigen der Jamesons dahin, und die beiden Ambulanzfahrer vorne auf dem Bock begleiteten sie auf ihrer Tour. Anscheinend fand jeden Tag eine Parade statt, und gerade wurden sie an der Kreuzung aufgehalten, während eine vorüberzog. Pearl stand auf, um sie sich anzusehen, und zog Miz Emily an der Hand, bis die auch aufstand und zusah. Wie kraftvoll die Musik war, die Trommelwirbel viel imposanter, als Pearl es mit ihrem Eins-Zwei-Geklopfe je hingekriegt hatte, die Messinghörner blitzten im Einklang mit ihrem Getröte in der Sonne auf, große und kleine Flöten piepten über der Musik wie Vögel, die sich auf den Klängen niederließen, und die fetten Tuben bollerten darunter, und ganz hinten kündeten die beiden Basstrommeln das Erscheinen der nachfolgenden Formationen von Blauröcken in Paradeuniform an. Und all die Flaggen der Union!

Unter der Musik vernahm sie die rhythmischen Schritte der Soldaten, ein leises Geräusch, und als die Kapelle die Straße hinuntergezogen war und immer weiter Kompanien von Blauröcken vorbeimarschierten, hörte sie nur noch das gedämpfte Flüstern ihres Gleichschritts, ein Säuseln fast, und wären nicht die brüllenden Sergeanten am Rand gewesen und hätten nicht die Standarten in der Luft Pearl daran erinnert, wer hier vorüberzog, dann hätten sie gedacht, wie traurig, da feierten diese Männer mit den Gewehren auf den Schultern ihren Sieg, für Pearl aber sahen sie so unfrei aus, wie sie selbst es einmal gewesen war, obwohl sie vielleicht nicht als Sklaven geboren waren."


Aus: E.L.Doctorow: Der Marsch. Kiepenheuer & Witsch, 2007, S. 110f.



Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Verlag Kiepenheuer & Witsch und dem Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck