Bernd Scherer: Eröffnungsrede
Anlässlich des Festes der Shortlist und der Verleihung des Internationalen Literaturpreises 2016
Es gilt das gesprochene Wort
Meine Damen und Herren,
ich möchte Sie ganz herzlich im Namen des Haus der Kulturen der Welt begrüßen zur diesjährigen Verleihung des Internationalen Literaturpreises und zum Fest der Shortlist.
Insbesondere geht mein Willkommensgruß an alle international und national angereisten Autoren und Ihre Übersetzer: Johannes Anyuru und Paul Berf, Joanna Bator und Lisa Palmes, Alexander Ilitschewski und Andreas Tretner, Shumona Sinha und Lena Müller, und Ivan Vladislavić und Thomas Brückner. Valeria Luiselli und Dagmar Ploetz können heute leider nicht hier sein – an ihrer Stelle werden die Autorin Laïa Jufresa und die Verlegerin Ante Kunstmann über den Roman von Luiselli sprechen. Herzlichen Dank, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben und ganz herzlichen Dank an Sie alle, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind.
Und mein Willkommensgruß geht auch an alle Jury-Mitglieder, Leila Chammaa, Michael Krüger, Marko Martin, Sabine Peschel, Jörg Plath, Iris Radisch und Sabine Scholl, die das bisherige Preisjahr und Auswahlverfahren und auch diesen Tag wesentlich mit uns gestaltet haben.
Mein besonderer Dank gilt außerdem dem Stifter dieses Preises, Jan Szlovak. Dank seines Engagements können wir diesen Preis nun schon zum achten Mal vergeben und die kontinuierliche Zusammenarbeit hat dazu geführt, dass der Preis zu einem festen Bestandteil der nationalen und internationalen Literaturszene geworden ist.
Seit Beginn verdankt sich der Preis der Einsicht, dass Literatur nicht in nationalen Kategorien gefasst werden kann, sondern sich in transnationalen Diskursen und Ökonomien bewegt. Denn trotz der national funktionierenden Buchmärkte ist Literatur von Migration und damit von internationalen sprachlichen Stilen und Strömungen durchdrungen.
Der Preis, der explizit ein Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen ist, geht ausgehend von diesen Überlegungen davon aus, dass Literatur etwas Gemachtes ist, an dem auch die Übersetzer*innen maßgeblich beteiligt sind. Seit acht Jahren gehen wir diesem Phänomen in immer neuen Formaten nach, um die Bewegungen und Dynamiken der Macharten von Literatur zu verfolgen. Der Internationale Literaturpreis stellt also nicht allgemein internationale Literatur vor, sondern solche Titel, die aus anderen Sprachen erstmals ins Deutsche übersetzt wurden.
In diesem Jahr haben sich am Preisverfahren 71 Verlage beteiligt - mit über 140 eingereichten Titeln und Übersetzungen aus 31 Sprachen. Aus dieser Fülle an Einsendungen hat unsere Jury 6 Titel für die diesjährige Shortlist nominiert. Dabei wurden nicht ohne Grund sechs Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Sprachräumen ausgewählt, die alle selbst mehrsprachig aufgewachsen oder im Laufe ihres Lebens zu Sprachwechslern geworden sind: Johannes Anyuru ist in Schweden aufgewachsen, wohin seine Familie aus Uganda ausgewandert ist, Joanna Bator wurde in Polen geboren, war aber in unterschiedlichsten Ländern Europas unterwegs, in den USA und sehr lange in Japan, Alexander Ilitschewski stammt aus Russland, lebt aber seit einiger Zeit in Israel, und Valeria Luiselli wohnt abwechselnd in Mexiko und New York. Wir dürfen also gespannt sein, wie viele Sprachen aber auch Erfahrungswelten in den übersetzten Texten wie in den Originalromanen indirekt anwesend sind!
Der diesjährige Literaturpreis steht unter der Überschrift DIE AUSWEITUNG DER LESEZONE. Damit ist zum einen das gemeint, was den Literaturpreis schon von Beginn an auszeichnet: dass es nicht reicht, nur über Autoren als autonome Subjekte zu sprechen, sondern dass Literatur immer von Erfahrungen, von der Lektüre anderer Bücher, von Bildern und Medien aller Art beeinflusst ist und außerdem nicht nur vom Autor als Person, sondern genauso von Übersetzer*innen, Verleger*innen und Leser*innen geprägt wird. Es meint aber auch die Ausweitung des Literaturbegriffs von den einzelnen Romanen auf die Prozesse des Erzählens, Schreibens, Übersetzens und Lesens und deren Folgen, die erst im Zusammenspiel das herstellen, was wir Literatur nennen. Zusätzlich zu den sechs Lesungen aus den Originaltexten und aus den Übersetzungen der Shortlist werden wir deshalb zur heutigen achten Ausgabe des Internationalen Literaturpreises auch sechs sogenannte Materialgespräche verfolgen können.
Literatur ist etwas Gemachtes, Hergestelltes und fällt dem Autor nicht wie eine plötzliche Eingebung von irgendwoher in den Schoß – das ist nichts Neues und das wissen wir spätestens seit den großen Romanen der klassischen Moderne, die sich selbst oft genug als Materialsammlungen präsentierten. Das Besondere an unserer heutigen Situation aber sind zum einen die veränderte Art des Materials und zum anderen die dynamische Wechselwirkung zwischen Material und Literatur.
Mit Tischkameras werden in den Materialgesprächen Texte, Kontexte und Paratexte in Form von Notizen, Parallellektüren, Recherchematerialien oder-instrumenten, kommentierten Manuskripten oder Bildern abgefilmt und auf Leinwänden vergrößert für Sie sichtbar gemacht, so dass Sie den Autor*innen und Übersetzer*innen bei der Arbeit gewissermaßen über die Schulter schauen können. Die literarischen Texte stellen sich so als Verdichtungsprozess und Palimpsest aus unterschiedlichen Schichtungen dar, deren Zusammenspiel vom Leser in unterschiedlichster Weise aufgegriffen werden kann.
Drei Beispiele möchte ich Ihnen vorab verraten:
Die Autorin Valeria Luiselli schrieb den Roman „Die Geschichte meiner Zähne“ laut Verlag in Zusammenarbeit mit Arbeitern der mexikanischen Saftfabrik Jumex: Luiselli stellte den Arbeitern Geschichten als Serienroman zur Verfügung, die von ihnen in Lesekreisen besprochen wurden. Diese Gespräche ließ Luiselli wiederum als wahre Geschichten in die nächsten Folgen ihres fiktionalen Serienromans einfließen. Ob die Geschichte dieses gemeinsamen Herstellungsprozesses mit den Arbeitern allerdings überhaupt wahr oder fiktional ist, bleibt der Deutung des Lesers überlassen. So zeigt sich ein Spannungsverhältnis von dokumentarischem Material und Fiktionalisierung, das für die nominierten Titel typisch ist und im Materialgespräch Thema sein wird.
Im Fall des Romans „Dunkel, fast Nacht“ von Joanna Bator ist es die Übersetzerin, die ihrerseits mit einer Vielzahl von Materialien arbeitete, um die spezifischen Referenzen der polnischen Sprache mit Parallellektüren abzugleichen. Es werden u.a. Zeitungsartikel, Bilder, Telefonbücher und auch ein Katzenschädel auf dem Materialtisch liegen: Instrumente, die die Suche nach Äquivalenten zu den vielen Katzennamen, die Joanna Bator in ihrem Roman verwendet, begleitet haben.
Ein besonders komplexes Beispiel ist das von Ivan Vladislavićs fast fotografischem Roman „Double Negative“, der schon im Titel auf das Medium der Fotografie Bezug nimmt. Er verhandelt das Thema der Apartheid in Südafrika anhand von Fotos des berühmten südafrikanischen Fotografen David Goldblatt und hat für das Materialgespräch faszinierendes Bildmaterial für uns mitgebracht. „Double Negative“ ist aber auch deshalb interessant, weil sich aus dem Buch wieder ein Ausstellungsprojekt entwickelte, also sich hier ein geradezu metabolischer Prozess der Übersetzung und Aneignung von Inhalten und Formen in unterschiedlichen Medien manifestiert. Hier reagiert Schrift auf Bilder und umgekehrt. Wahrnehmungen übersetzen sich in Romanform, Lese-Erfahrungen wieder in ein Ausstellungsformat.
Jeweils eines der Materialgespräche wird von unseren Jury-Mitgliedern Iris Radisch und Jörg Plath moderiert, die vier übrigen, an denen unsere Juror*innen als „Intensiv-Leser“ der Titel teilnehmen werden, moderiert Thomas Böhm.
Thomas Böhm ist einer der Vorreiter des Social Reading – eine aus Großbritannien kommende Bewegung, die den klassischen Lesekreis ablöst und den Prozess des Lesens selbst zur gemeinsamen Praxis macht. Für unsere Materialgespräche ist er deshalb die ideale Person. Er war außerdem Programmleiter des internationalen literaturfestivals berlin und ist derzeit als Moderator der Sendung Die Literaturagenten im rbb zu hören.
Durch das Gesamtprogramm führt sie heute Aurélie Maurin. Wir freuen uns sehr, dass wir sie als Moderatorin und Master of Ceremony gewinnen konnten. Sie ist nicht nur selbst Lyrik-Übersetzerin und eine multilinguale Agentin der Literatur zwischen Frankreich und Deutschland, sie ist eine erfahrene Veranstaltungskuratorin und Projektleiterin u.a. in der Literaturwerkstatt Berlin und Herausgeberin verschiedener Buchreihen und Zeitschriften. Sie wird Sie heute den gesamten Tag durch unser dichtes und spannendes Programm geleiten. Begeben Sie sich vertrauensvoll in ihre Hände.
Ich bin sehr gespannt auf unsere wunderbaren Autor*innen und Übersetzer*innen und insbesondere auf die Materialgespräche und wünsche uns und Ihnen allen einen großartigen achten Internationalen Literaturpreis. Und damit übergebe ich das Wort an Aurélie Maurin, vielen Dank, dass Sie heute hier sind und seien Sie herzlich Willkommen!
Berlin, Haus der Kulturen der Welt
25. Juni 2016