Al-mashaa’ oder der öffentliche Raum als Allgemeingut

Der öffentliche Raum wird im westlichen politischen Gedankengut oftmals mit „öffentlichem Interesse“ und „Allgemeinwohl“ gleichgesetzt. In anderen kulturellen Kontexten jedoch, etwa in den arabischen Ländern, erregt der Begriff viel eher Verdacht. In den Jahren der Kolonialherrschaft stand der öffentliche Raum in keiner Weise für das kollektive Interesse der lokalen Bevölkerung, sondern für die arrogante und gewalttätige Machtausübung und Ausbeutung durch die weißen europäischen Eliten. In regelmäßigen Abständen enteignete der Kolonialstaat im Namen des Allgemeinwohls das, was die Menschen gemeinschaftlich teilten. So verdeutlicht etwa die Enteignung von Land im Namen des „öffentlichen Interesses“ durch die Kolonialbehörden, dass öffentliches Interesse nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit dem Wohl der Allgemeinheit ist. Die Unterscheidung zwischen einer statischen, rhetorischen Auffassung von „Öffentlichkeit“ und „öffentlichem Raum“ auf der einen und dem schöpferischen und interaktiven Verständnis von Allgemeingut auf der anderen Seite wurde durch die Fixierung des Staatsapparats auf Sicherheit und Kontrolle polarisiert. In der totalen Überwachung des öffentlichen Raums drückte sich die Angst der staatlichen Behörden angesichts eines in einen politischen Raum verwandelten Platzes, Kreisverkehrs oder Boulevards aus, der ihre Autorität zu unterwandern in der Lage wäre.

Leider versuchen die meisten arabischen Regierungen auch nach der Unabhängigkeit das Entstehen von öffentlichem Raum zu vereiteln. Öffentliche Räume tragen die Züge des repressiven und konservativen Regimes, statt Freiheit, Souveränität und Würde des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Die neoliberalen Wellen, die den arabischen Raum innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte überrollt haben, haben jede Möglichkeit zunichte gemacht, öffentlichen Raum spontan und im Sinne des Allgemeinguts zu nutzen.

Jedoch haben die Revolten in den arabischen Ländern seit 2010 neue politische Richtungen und mögliche Neubestimmungen von öffentlichem und privatem Raum und Allgemeingut ermöglicht. Diese Ereignisse stehen grundlegend für den Wunsch, den öffentlichen Raum und das Allgemeingut neu zu denken und zurückzugewinnen. Die Demonstrationen in der Habib Bourguiba Avenue in Tunis, die Besetzungen des Tahrir-Platzes in Kairo und des Pearl-Kreisverkehrs in Manama, Bahrain, vermitteln eine Ahnung des sehr viel umfassenderen Kampfes um einen öffentlichen politischen Raum in der arabischen Welt.

Revolten

In den Wochen nach der ägyptischen Revolte, die am 25. Januar 2011 begonnen hatte, beobachteten wir, wie ein öffentlicher Platz in einen öffentlichen Raum verwandelt wurde, der den Menschen gehörte. Der Tahrir-Platz wurde zum politischen Raum, in dem neue Forderungen erdacht, vertreten und in politische Aktion umgesetzt wurden. Am Tag nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak begannen die Protestierenden den Ort aufzuräumen; ein Akt, der das Ende eines Regimes und den Beginn einer neuen Ära für die Ägypter verhieß. Der Raum wurde nicht länger als öffentlich im Sinn von staatlich angesehen, sondern als Raum des Volkes. Den Raum zu besitzen hieß die Zukunft des Landes in Händen zu halten. Das Säubern des Platzes wurde zur Geste der Wiederaneignung, des Eigentumsrechts und der Fürsorge. Der scheinbar banale Akt drückte ein Gefühl wiederhergestellter Gemeinschaft und öffentlichen Eigentums aus.

Auch andernorts in der arabischen Welt hat sich gezeigt, welche Macht Versammlungen und die (Rück)Verwandlung des öffentlichen Raums in Allgemeingut ausüben kann. Im Februar 2011 versammelten sich Menschenmengen um den Pearl-Kreisverkehr in Manama, Bahrain, und funktionierten ihn aus einer anonymen Infrastruktur in eine politische Arena um. Wie auch der Tahrir-Platz in Kairo brachte dieser Kreisverkehr eine konstituierende Versammlung hervor, die in der Lage war, das politische Regime zu untergraben.

Folglich schritten die lokalen Behörden am 18. März brutal ein, wobei sie den Kreisverkehr vollständig zerstörten. Diese Tat verdeutlicht, wie wichtig der physische Raum ist, in dem sich Menschen versammeln und ihre Rechte einfordern können: Ohne ihn bleibt der virtuelle Raum der sozialen Netzwerke wirkungslos.

Die Mehrdeutigkeit des gegenwärtigen öffentlichen Raums kann auch in westlichen Gesellschaften beobachtet werden. Eine Gruppe von Protestierenden versuchte im Sommer 2011 vergeblich, sich an verschiedenen öffentlichen Orten in New York zu versammeln und Camps einzurichten. Paradoxerweise wurden ihre Versuche durch Regelungen und Sperrstunden für öffentliche Plätze vereitelt. Erst am 17. September konnten die Protestierenden ein Camp im Zuccotti Park errichten, einem öffentlichen Ort, der sich in Privatbesitz befindet. Diese Lücke zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten ist vielleicht alles, was heute von einem gemeinsam genutzten, öffentlichen Raum geblieben ist. Das, was wir den öffentlichen Raum nennen ist - wie dieses Beispiel zeigt - weder öffentlich noch privat.

Al-mashaa’ und der öffentliche Raum als Allgemeingut

Im Folgenden soll es darum gehen, die Überlegungen zum öffentlichen Raum über diese Ereignisse hinauszutragen und die Mittel und Wege zu untersuchen, mit denen öffentlicher Raum und Allgemeingut konstituiert und geformt werden.

Wir möchten ein kritisches Verständnis des zeitgenössischen Begriffs von Öffentlichkeit (the public) vorschlagen, indem wir ihn neu denken. Wir möchten nicht den Begriff der „commons“ (Allmende) verwenden, der in der angelsächsischen Tradition gebräuchlicher ist, sondern des „common“ (im Sinn von gemeinsam), um zu der lateinischen Wurzel des Wortes zu gelangen, communis. Das lateinische Wort communis wird aus com (= cum), „zusammen“, und móinis gebildet, das ursprünglich „zur Partizipation verpflichtet“ bedeutet. Dieser grundlegende Aspekt des „common“ – eine Aufforderung zur aktiven Partizipation – ist auch im arabischen Begriff al-mashaa‘ enthalten, der sich auf Allmendegut oder Gemeindeland bezieht, welches zu gleichen Teilen unter den Bauern aufgeteilt wird. Diese Art und Weise der Nutzung von „gemeinschaftlichem Land“ (common land) wurde unter osmanischem Gesetz nicht vollständig anerkannt – weshalb es für al-mashaa‘ keine schriftliche Bezeichnung in der osmanischen Gesetzgebung gibt – und in der Folge unter kolonialer Herrschaft als ineffizient verworfen. Für an territorialer Kontrolle interessierte koloniale Regimes stellt die Nutzung von Land nach al-mashaa‘ eine öffentliche, gemeinschaftliche Dimension dar, die sich der staatlichen Kontrolle entzieht. So wurde al-mashaa‘ in staatlichen Besitz umgewandelt, fällt nunmehr unter die Kategorie von öffentlichem Land und wird folglich vom Staat verwaltet. Eigentlich bedeutet al-mashaa‘ jedoch gemeinsam genutztes, untereinander aufgeteiltes Land, dessen Besitz allein durch die Praxis der Nutzung in der islamischen Welt anerkannt wird. Es entstand aus einer Kombination aus islamischer Auffassung von Besitz und herkömmlicher Praxis im Umgang mit Gemeinde- oder Stammesland. Al-mashaa‘ konnte nur bestehen, wenn die Menschen sich entschlossen das Land gemeinsam zu kultivieren. In dem Moment, in dem sie damit aufhörten, verloren sie auch ihr Besitzrecht. Grundlegende Voraussetzung für diese Form von Besitz ist dabei eben jene Aktivierung durch gemeinsame Nutzung. Heute ließe sich nach Möglichkeiten fragen, die Idee einer gemeinschaftlichen Kultivierung wieder aufzunehmen und dabei die Bedeutung von Kultivierung auf andere Bereiche menschlicher Aktivitäten ausweiten, etwa des gemeinsamen Sorgetragens für das Leben (Kultivierung vom lateinischen colere = Sorge tragen für das Leben).

Das Flüchtlingslager als Ort der politischen Erfindung

In Flüchtlingslagern existieren die Kategorien von öffentlich und privat nicht mehr. Auch nach vierundsechzig Jahren dürfen palästinensische Flüchtlinge ihre eigenen Häuser nicht rechtmäßig besitzen (obwohl sie sie in der Praxis bewohnen) und das Lager ist als Raum weiterhin dem Territorialstaat zugehörig. Obwohl Staaten und Nichtregierungsorganisationen sich aktiv an der Konzipierung und Verwaltung der Lager beteiligen, versuchen wir immer noch zu verstehen, wie genau das Lager die Grundidee der Stadt als organisierte und funktionale politische Gemeinschaft kontaminiert und radikal verändert hat. Somit stellt die Geburtsstunde des Flüchtlingslagers die Vorstellung von Stadt als demokratischem Raum in Frage. Wenn wir davon ausgehen, dass der öffentliche Raum den Bürger politisch repräsentiert, so verhält es sich im Lager umgekehrt: Hier wird der Bürger seiner politischen Rechte beraubt. So gesehen repräsentiert das Lager eine Art Anti-Stadt, birgt aber auch das Potential eines “Gegen-Ortes”, an dem neue urbane Formen entstehen können, die über die Idee des Nationalstaates hinaus gehen.

Eine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge zu ermöglichen bedeutete nicht nur einen Wechsel der politischen Systeme in Israel und Palästina, sondern eine Veränderung der ganzen Region. Eine halbe Million Flüchtlinge befinden sich in Libanon und Syrien, zwei Millionen in Jordanien. Für eine mögliche Rückkehr spielt der Einfluss der Figur des Flüchtlings und der mit ihr verbundenen “räumlichen Ordnung der Ortlosigkeit” auf einen großen geopolitischen Raum eine tragende Rolle.

Der Workshop

Der Workshop “Al-mashaa' oder der öffentliche Raum als Allgemeingut” fand vom 30. Oktober bis 1. November 2013 am Haus der Kulturen der Welt in Berlin statt. Im Mittelpunkt standen Praktiken und Konzeptualisierungen von öffentlichem Raum in den arabischen Ländern und darüber hinaus. Denker, Aktivisten und Forscher aus dem Mittelmeerraum und Europa reflektierten kritisch die Konstitution, Besetzung, Erhaltung und Ausformung von öffentlichem Raum. Der Workshop fand sowohl an öffentlichen als auch an privaten Orten statt – ein Künstlerstudio in Berlin und der institutionelle Raum des HKW. An der öffentlichen Abschlusssitzung nahmen an die hundertfünzig Zuschauer teil. Sie diskutierten brisante Fragen und Probleme unserer Zeit und steuerten konstruktive Ideen bei, diesen zu begegnen.

Insgesamt beteiligten sich fünfundzwanzig Teilnehmer aus Ägypten, Deutschland, Großbritannien, Indien, Italien, Irak, Jordanien, Libanon, Palästina, Tunesien, der Türkei und den Vereinigten Staaten am Workshop. Sie stellten in kurzen Präsentationen ihre Interessens- und Forschungsgebiete vor und setzten diese in Bezug zum übergeordneten Thema des öffentlichen Raums als Allgemeingut und den jüngeren Revolten und Aufständen in den arabischen Ländern wie auch an anderen Orten in der Welt. Die Präsentationen und Diskussionen waren entlang von Schlüsselbegriffen organisiert: Imagination und Traum, kollektive Erinnerung und Zukunft, Vertreibung und Wiederaneignung, Revolte und Institution. Die Debatte griff unterschiedliche Herangehensweisen auf, Definitionen und Möglichkeiten von, sowie Probleme des öffentlichen Raums und der Bedeutung von Allgemeingut. Im Rahmen des Symposiums “A Journey of Ideas Across: In Dialog with Edward Said” und der dort herrschenden Atmosphäre der kritischen, politisch engagierten und interdisziplinären Untersuchung und Befragung, konnten die Teilnehmer des Workshops eine gemeinsame Reflexion und Diskussion über Formen der Produktion, Anfechtung und Enteignung von öffentlichem Raum vor allem in den östlichen Ländern des Mittelmeerraums anstoßen.

Es wird weiter diskutiert: die Online-Plattform “Al-mashaa' oder der öffentliche Raum als Allgemeingut”

Der Workshop warf etliche zentrale Fragen auf: Wie können Formen des “commoning” (des gemeinsamen Sorgetragens) so gefestigt werden, dass neue institutionelle Strukturen entstehen? Auf welche Weise hinterfragt al-mashaa' den Gebrauch grundlegender Begriffe wie Legalität und Illegalität, öffentlich und privat, Aneignung und Enteignung? Wie können wir die Möglichkeiten für einen öffentlichen, gemeinschaftlich genutzten Raum schaffen, ohne dass sich exklusive oder sich abgesondernde Gemeinschaften bilden?

Viele Teilnehmer, so wie wir selbst auch, äußerten das Bedürfnis, die Diskussion fortzusetzen, um diese drängenden Fragen weiter zu erörtern. Wir taten dies in einer Reihe von Online-Gesprächen mit Workshopteilnehmern. Doch auch damit sollte das Gespräch nicht abreißen, weshalb wir eine Plattform für weiterführende Diskussionen zwischen den Workshopteilnehmern, aber auch für Dialoge über diese Gruppe hinaus anbieten möchten: Die Online-Plattform “Al-mashaa' oder der öffentliche Raum als Allgemeingut” wird in Zusammenarbeit mit dem HKW veröffentlicht und bereitgestellt.

Die Plattform beinhaltet Auszüge aus längeren Gesprächen mit Workshopteilnehmern. Diese Gesprächsfragmente sind Bestandteile einer umfassenderen Auseinandersetzung. Besucher der Plattform können die Aspekte, die sie am meisten interessieren, auswählen und die unterschiedlichen Ideen, Vorstellungen und Auffassungen innerhalb der kritischen Auseinandersetzung mit “Al-mashaa' oder der öffentlichen Raum als Allgemeingut” Stück für Stück verfolgen. Kommende Gespräche sollen ergänzt werden, so dass sich der virtuelle Diskursraum im Fortgang der Diskussionen ständig erweitert.

Ziel der Online-Plattform ist nicht eine letztgültige Definition des Begriffs al-mashaa', sondern die Untersuchung seines konzeptuellen und praktischen Nutzens über den “Moment der Revolte” hinaus hin zu dem, was wir den “Tag danach” genannt haben. Er soll helfen, die Herausforderungen, Möglichkeiten und Fallstricke einer jeden sozialen, räumlichen und politischen Transformation zu verstehen.

Sandi Hilal and Alessandro Petti