Marie NDiaye: Drei starke Frauen
Preisträgerinnen 2010
Roman, Suhrkamp Verlag 2010
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Das Buch
Die erfolgreiche 40-jährige Anwältin Norah gibt dem Drängen ihres Vaters nach und besucht ihn in Dakar: Sie soll ihren Bruder aus dem Gefängnis holen, doch wird diese Aufgabe vor allem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Fanta hat im Unterschied zu Norah Dakar verlassen, um ihrem Ehemann Rudy in die französische Provinz zu folgen. Khady, eine junge Afrikanerin, versucht illegal nach Frankreich einzuwandern und bezahlt diesen Traum mit dem Leben. Drei Lebensläufe, drei starke Frauen, die ihre Würde verteidigen, indem sie sich im entscheidenden Moment weigern, so zu handeln, wie es die Umgebung verlangt.
Die Autorin
Marie NDiaye, 1967 in Pithiviers bei Orléans geboren, veröffentlichte mit 17 ihren ersten Roman. Weitere Romane und Theaterstücke folgten. Für „Rosie Carpe“ erhielt sie 2001 den renommierten Prix Fémina. Im Jahr 2009 wurde ihr für den Roman „Trois femmes puissantes“ die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs, der Prix Goncourt, verliehen. 2015 erhielt Marie NDiaye den Nelly-Sachs-Preis. Die Autorin lebt seit 2007 mit ihrer Familie in Berlin.
Zuletzt erschienen:
Marie Ndiaye: Ladivine
Suhrkamp 2014, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Ladivine, Gallimard 2013)
Marie NDiaye: Selbstportrait in Grün
Suhrkamp 2012, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Autoportrait en vert, Mercure de France 2005)
Marie NDiaye: Ein Tag zu lang
Suhrkamp 2012, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Un temps de saison, Les Editions de Minuit 1994)
Die Übersetzerin
Claudia Kalscheuer, geboren 1964 in Berlin, studierte Romanistik, Linguistik und Philosophie in Berlin und Toulouse. Seit 1995 übersetzt sie aus dem Französischen. 2002 erhielt sie den André-Gide-Preis für deutsch-französische Literaturübersetzungen, 2010 als Übersetzerin von Marie N’Diaye den Jürgen Bansemer und Ute Nyssen-Dramatikerpreis.
Zuletzt erschienen
Ndiaye, Marie: Ladivine
Suhrkamp 2014, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Ladivine, Editions Gallimard 2013)
Tesson, Sylvain: In den Wäldern Sibiriens. Tagebuch aus der Einsamkeit
Knaus 2014, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Dans les forêts de Sibérie, Editions Gallimard 2011)
NDiaye, Marie: Selbstportrait in Grün
Suhrkamp 2012, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Autoportrait en vert, Mercure de France 2005)
NDiaye, Marie: Ein Tag zu lang
Suhrkamp 2012, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Un temps de saison, Les Editions de Minuit 1994)
Roger, Marie-Sabine: Der Poet der kleinen Dinge
Hoffmann und Campe 2011, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
(Vivement l´avenir, Éditions du Rouergue 2010)
Jurykommentar zur Wahl der Preisträgerinnen 2010:
„Marie NDiaye hat einen sprach- und bildmächtigen Roman über ‚Drei starke Frauen‘ geschrieben, in dessen Zentrum drei höchst unterschiedliche Hauptfiguren stehen, die eines eint: Sie alle widersetzen sich den an sie herangetragenen Erwartungen im entscheidenden Moment und treffen ihre eigene Wahl. Aufgebaut wie ein Triptychon und geographisch aufgespannt zwischen dem Senegal und Frankreich, erzählt das Buch die Geschichten von Norah, Fanta und Khady Dhemba, die jede auf ihre Weise ihre innere Freiheit gegenüber einer in ihrer Erbärmlichkeit geradezu körperlich beklemmenden Männerwelt verteidigen: Die achtunddreißigjährige Anwältin Norah, die auf Drängen ihres selbstgefälligen, unbarmherzigen Vaters nach Dakar reist, weil ihr jüngerer Bruder im Gefängnis sitzt, und dort gezwungen wird, dem Familiendämon ins Auge zu blicken; Fanta, die junge Lehrerin mit den flinken Füßen und dem geflügelten Gang, die ihrem Mann Rudy Descas nach dessen Suspendierung in die französische Provinz folgt und sich dort mit gestutzten Flügeln wiederfindet, eine prächtige Glyzinie, eigenhändig von ihrem Mann gefällt; die zierliche Khady Dhemba, die nach dem Tod ihres Mannes von den Schwiegereltern vor die Tür gesetzt und zum Geldverdienen mit einem Track illegaler Einwanderer nach Europa geschickt wird – und nach einer Odyssee durch Nordafrika bei der Überwindung des Grenzzauns auf tragische Weise stirbt.
Marie NDiayes ‚Drei starke Frauen‘ ist ein subtiles, dicht geschriebenes, in seiner sprachlichen Ausgestaltung einen starken Sog entfaltendes Buch über gestörte Beziehungen, emotionale Abhängigkeiten, unerhörte Abgründe innerhalb familiärer Beziehungen, eine fein austarierte Choreographie von verstörenden Annäherungs- und Abstoßungsprozessen, deren Motiv nicht umsonst die Hitchcockschen Vögel sind. Doch mit den Hitchcockschen Erinnyen allein ist es auf der Ebene der sprachlichen und bildlichen Motive nicht getan: Marie NDiayes Vermögen, Schlüsselworte magnetisch aufzuladen, sie kontrapunktisch einzusetzen, ihrem Roman einen spiralförmigen, sich selbst immer weiter, immer tiefer schraubenden musikalischen Rhythmus einzuschreiben, ist stupend. Wie auch ihre Implantation afrikanischer Bildwelten in einen Text von der Größe der Flaubert‘schen ‚Trois Contes‘, mit der sie unmerklich den Resonanzraum der französischen Sprache erweitert. Und damit vorführt, was Schreiben jenseits der althergebrachten Kategorien von Heimat und Herkunft sein kann: „Weltkulturliteratur“ jenseits von Migration und Exil, die eine neue grenzüberschreitende Formensprache vorantreibt.
Marie NDiayes Stil ist luzide und präzise, ihre Sätze sind genau austariert. Lange, verschachtelte Absätze wechseln in einem wohl kalkulierten System sich ab mit kürzeren Passagen und einzeiligen lakonischen Konstatationen, die nach und nach Indizien liefern für den psychischen Zustand der Figuren – und es ist exakt diese fein austarierte Choreographie unterschiedlicher Längen, die den sich selbst immer weiter, spiralförmig immer tiefer schraubenden musikalische Rhythmus von ‚Drei starke Frauen‘ ausmachen: Lang, lang, lang, kurz, kurz, lang, lang, lang, kurz, lang, lang, lang, lang, kurz, kurz – und man sieht sie gleichsam vor sich, die mit Alliterationen aufgeladene Rhythmusspirale, die dem Buch seinen Atem, seine sprachliche Dichte, seine Spannung steigernden Momente verleiht.
Claudia Kalscheuer ist es gelungen, diesen fein austarierten, halb alptraumhaften, halb surrealen Rhythmus im Deutschen abzubilden. Sie folgt sehr genau den Satzbewegungen des französischen Originals, wählt aber an den entscheidenden Stellen Möbiusschleifen, setzt Inversionen, reduziert die Zahl der Alliterationen, ohne ihr poetisches Moment auch nur im Entferntesten aufzugeben, und schreibt auf diese Weise ihrer Übertragung die deutsche Sprachmelodie ein, lädt sie mit exakt dem gleichen dichten, verstörenden Rhythmus auf, den das Original der ‚Drei starken Frauen‘ auszeichnet. Und dies ist eine Meisterleistung.“