Kersten Knipp: Laudatio auf Marie NDiaye

Marie NDiaye hat einen sprach- und bildmächtigen Roman über „Drei starke Frauen“ geschrieben, in dessen Zentrum drei höchst unterschiedliche Hauptfiguren stehen, die eines eint: Sie alle widersetzen sich den an sie herangetragenen Erwartungen im entscheidenden Moment und treffen ihre eigene Wahl. Aufgebaut wie ein Triptychon und geographisch aufgespannt zwischen dem Senegal und Frankreich, erzählt das Buch die Geschichten von Norah, Fanta und Khady Dhemba, die jede auf ihre Weise ihre innere Freiheit gegenüber einer in ihrer Erbärmlichkeit geradezu körperlich beklemmenden Männerwelt verteidigen: Die achtunddreißigjährige Anwältin Norah, die auf Drängen ihres selbstgefälligen, unbarmherzigen Vaters nach Dakar reist, weil ihr jüngerer Bruder im Gefängnis sitzt, und dort gezwungen wird, dem Familiendämon ins Auge zu blicken; Fanta, die junge Lehrerin mit den flinken Füßen und dem geflügelten Gang, die ihrem Mann Rudy Descas nach dessen Suspendierung in die französische Provinz folgt und sich dort mit gestutzten Flügeln wiederfindet, eine prächtige Glyzinie, eigenhändig von ihrem Mann gefällt; die zierliche Khady Dhemba, die nach dem Tod ihres Mannes von den Schwiegereltern vor die Tür gesetzt und zum Geldverdienen mit einem Track illegaler Einwanderer nach Europa geschickt wird – und nach einer Odyssee durch Nordafrika bei der Überwindung des Grenzzauns auf tragische Weise stirbt. Marie NDiayes „Drei starke Frauen“ ist ein subtiles, dicht geschriebenes, in seiner sprachlichen Ausgestaltung einen starken Sog entfaltendes Buch über gestörte Beziehungen, emotionale Abhängigkeiten, unerhörte Abgründe innerhalb familiärer Beziehungen, eine fein austarierte Choreographie von verstörenden Annäherungs- und Abstoßungsprozessen, deren Motiv nicht umsonst die Hitchcockschen Vögel sind. Doch mit den Hitchcockschen Erinnyen allein ist es auf der Ebene der sprachlichen und bildlichen Motive nicht getan: Marie NDiayes Vermögen, Schlüsselworte magnetisch aufzuladen, sie kontrapunktisch einzusetzen, ihrem Roman einen spiralförmigen, sich selbst immer weiter, immer tiefer schraubenden musikalischen Rhythmus einzuschreiben, ist stupend. Wie auch ihre Implantation afrikanischer Bildwelten in einen Text von der Größe der Flaubertschen „Trois Contes“, mit der sie unmerklich den Resonanzraum der französischen Sprache erweitert. Und damit vorführt, was Schreiben jenseits der althergebrachten Kategorien von Heimat und Herkunft sein kann: „Weltkulturliteratur“ jenseits von Migration und Exil, die eine neue grenzüberschreitende Formensprache vorantreibt.

Berlin, Haus der Kulturen der Welt
29. Juni 2011