Sibylle Lewitscharoff: Festrede zur Verleihung des Internationalen Literaturpreises 2010

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Literatur, wenn es sich denn im emphatischen Sinne des Wortes um Literatur handelt, ist gut, sie ist wahr, sie ist schön. Literatur zu lesen, ein Gedicht zu hören, ist die vielleicht klügste Art des Zeitvertreibs, den die Menschen ersonnen haben und dem sich manche, den rennenden, flackernden Bildern zum Trotz, immer noch genüßlich hingeben. Ich gehöre dazu, denn ungleich mehr Zeit habe ich lesend verbracht und nur einen verschwindend geringen Teil meiner Lebenszeit schreibend.

Gut ist sie, weil die echte Literatur auf unbestechliche Weise, über alle Abgründe, über Schlachten, die geschlagen, über Intrigen, die gesponnen werden, sogar über den Tod hinweg, sänftigend auf uns einredet: Du mußt dein Leben ändern! Eine zarte, schier unmerkliche Einrede, die zivilisierend wirkt, selbst wenn es in einem Buch tobsüchtig, ehrabschneidend, grausam, tolldreist zugeht. Der Leser nimmt, auch wenn er noch so sehr in einer Geschichte versinkt, reflektierend seine Distanz wahr. Alles menschliche Handeln in der Literatur ist Probehandeln; der Leser springt frei damit um, er ist eingeladen, es mit seinen Erfahrungen, den eigenen Phantastereien zu vergleichen und, wenn’s beliebt, in diese einzufügen. Ein Entlastungsfeld, frei von Pädagogik, ohne explizite Morallehre, auf dem Böses zur Sprache kommt, wobei insgeheim auf sublime Weise erkundet wird, was wir nicht tun dürfen. Wer, bitteschön, würde über der Lektüre von Franz Kafkas Strafkolonie, obwohl da an Grausamem wahrlich nicht gespart wird, zum Sadisten? Wer könnte sich an den Verstümmelten, den dreckigen Leibchen und schnurdünnen Tangas erlustieren, die Roberto Bolaño in 2666 aus der Wüstenei nahe Ciudad Juarez ausgräbt, um sie so trocken wie akribisch aufzulisten? Das Böse, von dem in der Literatur die Rede ist, wird den Leser zwar nicht stracks zum Guten führen können, aber seine Empfindsamkeit und seine Klugheit gegenüber den Machinationen des Bösen vermag sie zu schärfen, und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist nicht wenig.

Wahr ist sie, weil in der Literatur alles, was wir verloren, was wir rücksichtslos beseitigt haben, der Schmutz, der handgreifliche wie der seelische Abfall, den wir unentwegt produzieren, verläßlich wiederkehrt. Literatur rechnet mit den verlorenen Beständen, rechnet uns unerbittlich vor, was unsere Art zu leben kostet. Das hat sie immer schon getan. Wahr ist sie auch, weil in ihr längst vom Tod verschlungene Generationen zu Wort kommen, entweder, indem die Dichter aus früherer Zeit, deren Werke sich erhalten haben, selbst das Wort ergreifen, oder indem heutige Dichter die Toten wachrufen. Wahr und wichtig ist, was uns die Hofdame Murasaki Shikibu im 11. Jahrhundert über die erotischen Abenteuer des Prinzen Genji zu erzählen hat, ebenso wahr und wichtig sind die Dichtungen Homers oder Dantes, die Theaterstücke Shakespeares oder, mit Blick auf die heutige Welt, etwa die Romane Thomas Pynchons. Auch wenn es nicht die glanzvolle jesuanische Auferstehung ist, die den Toten da blüht – es sind ja nur einige bedeutende Texte unter christlichen Auspizien geschrieben und überhaupt nur eine Handvoll Tote zum literarischen Nachleben erweckt worden – so kommt es hierin doch zu winzigen Auferstehungen, dazu da, uns vom Hunger, der Liebe, den Leiden, der Tapferkeit der Menschen seit Adam zu erzählen. In diesem Sinne speichert das literarische Gedächtnis die Wahrheit über den Menschen durch die Zeiten hindurch. Natürlich auch alles, was Menschen mit eigenen Augen gesehen haben: Sterne, Wolken, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Städte. Das Füllhorn an gesammelten Erfahrungen ist riesig; die Summe all dieser Erfahrungen ist nichts anderes als die Wahrheit.

Schön ist sie, weil die Literatur uns die Wahrheit nicht mit dem Prügel ins Hirn klopft, sondern auf den lieblichen Wegen der ästhetischen Verführung uns bei der Hand nimmt. Es mag kitschig klingen, aber jedesmal, wenn ich ein wirklich berauschendes Buch gelesen habe, ist mir, als habe ein Engel meine Stirn geküßt. Selig bin ich, selig, selig, selig, im Hirn wimmelt’s, als habe man mir eine Prise Kokain verabreicht. Meistens springe ich aus dem Bett vor Vergnügen und laufe aufgeregt herum. Zur Literatur gehört nämlich, daß hin und wieder ein Wort fällt oder eine Wendung auftaucht, die unser Denken erregt, ja, einen rechten Sausewind durch’s Hirn bläst, wobei eine Geschichte, und sei es die übliche von Liebe, Einsamkeit und Tod, die wir längst zu kennen glaubten, frisch wird, neu wird, in ungeahnte Sphären rückt. Die Japaner sagen, in der Kehle eines jeden Froschs und jeder Nachtigall, im Geräusch des Windes, der die Pflanzen rascheln läßt, stecke ein Dichter. In Poesie und Literatur werden unsere Ohren geschärft für die Stimmen der Wesen, mit denen wir nicht sprechen können, und das ist herzerhebend schön, weil alles schön ist, was uns erlaubt, das enge Gehäus unserer Leiber zu verlassen und über uns hinaus zu geraten.

Kommen wir nun auf die internationale Literatur zu sprechen. Heute ist ein Tag, da darf unser Land einmal aus vollem Herzen gelobt werden. Bei uns wird sehr viel übersetzt, wir bitten literarische Stimmen aus fernen Ländern, oftmals vorzüglich übersetzt, als Gäste zu uns herein – sie mögen doch bitte für eine Weile in unseren Köpfen Platz nehmen. Der heute zu vergebende Preis will diesen Tatbestand würdigen und kräftigen. Solche Großzügigkeit besaß unser Land nicht immer.

In der glorreichen Zeit zwischen 1780 und 1830 hatte es hochfliegend begonnen, als es noch keinen Nationalstaat gab und nicht viel mehr als ein Dutzend poetisch-philosophischer Rauscheköpfe als Nachfahren Luthers das deutsche Sprachmaschinchen ölten, von überall her wie im Flug neue Wörter sich griffen, das Lateinische, das Französische sich zurechtbogen, wie sie’s gerade brauchten und dabei das Deutsch zu der gelenkigen, habhaften, ausrufungs- und anrufungsmächtigen Sprache entwickelten, die sie uns als Wunderwerk hinterlassen haben, ganz zu schweigen von dem raffiniert geschichteten Periodenbau mit seinen reflexiven Einschüben und Wendungen, den wir vielleicht mehr den Philosophen als den Poeten zu verdanken haben.

Lichtenberg, Lessing, Karl-Philipp Moritz, Jean Paul, Goethe, Schiller, Heinrich von Kleist, das waren alles keine geistig im Vaterländischen eingezwängten Leute, sondern Weltbürger, die ihre Köpfe neugierig über die einheimischen Hügel streckten. Diese freie Haltung der Neugier auf die Welt fand ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit der aggressiv vorgetragenen Abwehr der sogenannten Verwelschung allmählich ein Ende und kam schließlich im Nationalsozialismus ganz zum Erliegen. (Kleiner Wink am Rande: man lese zu dieser Entwicklung den Sprachverführer von Thomas Steinfeld, ein erzkluges Buch, das in diesem Haus vor einigen Tagen vorgestellt wurde.)

Der erste Schub, die Welt in Form von Büchern wieder zu sich hereinzubitten, kam nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Bücherschrank meiner Eltern zeigt, mit welcher Gier, wie ausgehungert sich Leute, die gern lasen, auf alles stürzten, was aus Frankreich oder Nordamerika kam. Und paar Jahre später tauchte das erste Buch auf, das von einem Schwarzen geschrieben worden war, damals gewiß eine Sensation: Another Country, Eine andere Welt, von James Baldwin. Es hat den Weißen dieser Generation sicher einiges an Grübelei abverlangt, sich vorzustellen, daß ein Schwarzer überhaupt ein Buch schreiben könne, noch dazu ein gutes.

Für meine Generation gehörten die Franzosen, Italiener, besonders die Nordamerikaner und Engländer allein schon wegen der Popmusik und des Kinos als kulturelle Grundausstattung wie selbstverständlich dazu. Für mich bedeuteten die ersten südamerikanischen Autoren den neuen, zutiefst erregenden Weltzugang. Cien años de soledad, Hundert Jahre Einsamkeit, das fuhr wie ein Donnerschlag drein – Herrgottzack! – ich weiß noch, wie ich mir schwor, sollte ich selbst je ein Buch veröffentlichen, dann eines mit Levitationen, die vom Autor so beiläufig aus dem Hosentäschle gezogen werden, als schicke er seinen Helden um’s Eck in eine Bar. Fortan las ich von den Südamerikanern so ziemlich alles, was zu kriegen war, wenig später auch im Original.

Bitte erlauben Sie mir hier einen kleinen lebensgeschichtlichen Exkurs. Wegen all der vielen Bücher, die so farbig, so schwül, so vital selbst im Schwarzumflorten der Melancholie, den Kontinent beschworen, wobei deren Autoren wie wildgewordene Kinder die Zeiten durcheinanderwarfen, heiratete ich einen Argentinier und zog mit ihm nach Buenos Aires. Aber – hier folgt nun ein gewichtiges Aber: so sehr ich die Fremde schätze, wenn sie in Form eines Buches auf mich zurückt, so ängstlich und verloren bin ich, wenn es in der Wirklichkeit geschieht. In meiner Brust klopft ein Hasenherz, nicht das Herz eines Abenteurers. Damals, in den späten siebziger Jahren, herrschten in vielen südamerikanischen Ländern brutale Militärdiktaturen, das war überall sichtbar, überall spürbar; und während einer Reise durch den gesamten Kontinent, die damals fast ein Jahr dauerte, habe ich das Elend gesehen, Leute, die auf der Straße verreckten, landwirtschaftliche Saisonarbeiter, die an der argentinischen Grenze, vorgeblich zu Desinfektionszwecken, mit DDT eingesprüht wurden, Szenen, die nur den einen Wunsch hervorriefen: sofort nach Hause!

Aber dann war es doch immer wieder die Literatur, die half, diese Länder besser zu verstehen, die eindringlich darum warb, den Anblick der Grausamkeit nicht als das einzig Hervorstechende zu nehmen. Ich erinnere mich noch an die göttlichen Wochen, als ich mit La Casa verde, einem Roman von Mario Vargas Llosa im Schlepp, in der Hängematte liegend, einen Nebenfluß des Amazonas entlangfuhr. Eine Fahrt wie in Trance mit Bordellen und Kautschukpalästen, in die ich mühelos hineinspazierte, beäugt von stummen Krokodilen, begleitet vom Gequak der Frösche, ahnend, daß es stimmt, was die Japaner sagen: in jeder Froschkehle hockt ein kleiner Dichter!

Jahre später, wieder zurück in Deutschland, wurde ich nach und nach mit der japanischen Literatur vertraut, deren verschwiegene Raffinesse, besonders bei den älteren Autoren, mich bis heute entzückt. Und danach, als der Eiserne Vorhang fiel, gab es einen zweiten Donnerschlag. Die Osteuropäer rückten heran. Ehrlich gesagt, vor dreißig Jahren hatte ich nicht geglaubt, daß die Ungarn, die Rumänen, die Ukrainer überhaupt schreiben könnten, einige Frühexilierte wie zum Beispiel Eugène Ionesco, die in Paris lebten und zu Weltruhm gelangt waren, ausgenommen; ausgenommen auch die Polen in Gestalt der herrlichen Dioskuren Zbigniew Herbert und Witold Gombrowicz oder einiger Tschechen, die bereits vorher schon durch Übersetzungen im Westen präsent waren. Was da aber sonst alles nach und nach neu herauskam, saftig, virtuos, quecksilbrig und dabei voller Kraft, darunter Pirouettendreher wie Peter Esterhazy, Dunkelbohrer wie Laszlo Darvasi, poetische Äquilibristen wie Mircea Cartarescu, um aus der großen glanzvollen Schar nur einige wenige zu nennen, das war und ist – salopp gesagt – umwerfend. Und manchmal, wenn ich mich in zermürbter Stimmung befinde, drückt mir diese harte, allzu harte Konkurrenz auf den Magen. Denn inzwischen sind meine Bücher auch auf der Suche nach Lesern, und es ist nicht so leicht, im schreibenden Weltgewirre nicht mutlos zu werden. Andererseits beglücken mich die mittlerweile von überall hereinströmenden Lektüren derart, daß die Konkurrenzlähmung rasch schwindet, zumal die eigenen Romane von den Techniken und Erfindungen der anderen aufgezwickt und befeuert werden.

Ich muß zugeben, es gibt für mich immer noch große weiße Flecken auf der literarischen Landkarte, die ich kaum mit Büchern besiedeln könnte. Große Länder wie China und Indien gehören dazu, Pakistan, der Iran, die meisten afrikanischen und arabischen Länder. Aber das – dessen bin ich gewiß – wird sich in den nächsten zwanzig Jahren ändern. Ich bin gespannt auf den nächsten Donnerschlag, der mich aufgekratzt aus dem Bett hüpfen läßt.

Ihnen, werte Damen und Herren, die Sie diesen Preis erfunden haben, der Jury, die gewählt hat, und nicht zuletzt der Tatsache, daß Sie für diesen bedeutenden Preis auch die Übersetzer ehren und ihnen etwas Geld ins Portemonnaie stecken, die Übersetzer, an denen es doch hängt, ob ein Buch bei uns zündet oder nicht – Ihnen allen gebührt Lob und Anerkennung dafür, daß Sie so freiherzig über Deutschland hinausspazieren!

Berlin, Haus der Kulturen der Welt
29. September 2010