Bernd Scherer: Das Haus hat die Welt im Haus

Das Haus hat die Welt im Haus

Intendant Bernd Scherer zur Wiedereröffung des Hauses der Kulturen der Welt und dem 50. Geburtstag der Kongresshalle


Wir feiern heute Wiedereröffnung des Hauses der Kulturen der Welt und fünfzig Jahre Kongresshalle. Meinen Vortrag habe ich unter das Motto gestellt: Das Haus hat die Welt im Haus. Sie werden vielleicht die Frage stellen: Ist das denn überhaupt möglich? Die Antwort auf diese Frage kann ich Ihnen erst am Ende geben.

Am 13. August 1790 stießen Bauarbeiter auf der Plaza Mayor in Mexiko-Stadt auf eine riesige Statue. Schnell wurde deutlich, dass sie eine Skulptur der Göttin Coatlicue – der „mit dem Schlangenrock“ – gefunden hatten. In „Die Kunst Mexikos“1) beschreibt Octavio Paz die Folgen der Entdeckung der Coatlicue Mayor. Zunächst wurde sie in die Königliche und Erzbischöfliche Universität gebracht, wo sie sich zwischen Gipskopien griechisch-römischer Werke wieder fand. Hier störte sie nicht nur das durch die Kopien repräsentierte Schönheitsideal, die Professoren der Universität befürchteten auch eine Wiederbelebung des alten Glaubens bei den Indios. Kurzum – die Skulptur wurde wieder vergraben. Alexander von Humboldt, der über den Fund gelesen hatte, konnte sie zwar im Jahr 1804 in Mexiko sehen. Sie wurde eigens für ihn ausgegraben, aber direkt danach wieder aufgrund ihres „schrecklichen Anblicks“ versteckt. Erst nach der Unabhängigkeit wurde die Coatlicue Mayor der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, zunächst in der Universität, später im Museo Nacional de Antropología, wo sie heute einen zentralen Platz einnimmt.

Für Octavio Paz reflektiert dieser Wandel den fortschreitenden Säkularisierungsprozess: erst Göttin, dann Dämon, dann Ungeheuer und heute ein Meisterwerk der Kunst. Dieser Wechsel lässt sich natürlich auch als ein Wechsel der Kontexte beschreiben. Als Göttin wurde die Coatlicue von den Azteken verehrt, als Dämon galt sie im christlichen Kontext, als Ungeheuer im säkularen Kontext, dem damals kein Kunstbegriff zur Verfügung stand. Im Museum wird sie schließlich Teil eines ästhetischen Diskurses. Es ist dieser Diskurs, der die Coatlicue der westlichen Moderne zugänglich macht. Sie wird über ihre sinnlichen Eigenschaften Teil eines Universums, an dem Sammler wie Kurt Stavenhagen, Theoretiker wie Paul Westheim oder Künstler wie Henry Moore teilhaben. Die Ästhetisierung der Coatlicue und ihre Herauslösung aus den traditionellen Verwendungskontexten macht sie, so Paz, trotz ihrer historischen Andersheit zum Teil eines Diskurses, der zeitgenössisch ist und universell, ein Diskurs, in dem die Coatlicue Mayor neben einer afrikanischen Maske, einem polynesischen Fetisch und auch einer Skulptur von Henry Moore betrachtet werden kann. Die Ästhetisierung hat hier also die Enthistorisierung und die Universalisierung zur Folge.

Damit sind wir in zweifacher Weise bei dem Gebäude und der Institution angelangt, die im Zentrum dieser Überlegungen steht, der Kongresshalle, dem heutigen Sitz des Hauses der Kulturen der Welt. Der Hinweis auf Henry Moore ist nicht dem Zufall geschuldet. Moore war in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts aus einer Ablehnung der akademischen Tradition und des griechischen Kunstideals auf die präkolumbianische Kunst gestoßen und insbesondere von den monumentalen Steinskulpturen der Azteken, Mayas und Tolteken fasziniert. Ihn beeindruckte die Expressivität der Gestalt dieser Skulpturen. Da die ursprünglich religiöse Bedeutung dabei in den Hintergrund trat, war für Moore genau der von Paz beschriebene unmittelbare und zugleich universelle Zugang zur präkolumbianischen Kunst über die ästhetische Form möglich.

In der Auseinandersetzung mit der präkolumbianischen, aber auch anderer „primitiver Kunst“ entwickelt Moore seine Formensprache, die ihn zu einem führenden Vertreter der sich als universell verstehenden klassischen Moderne macht.

Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die letzte von Henry Moore angefertigte Skulptur vor einem Gebäude steht, das zu einem Wahrzeichen der Nachkriegsmoderne in Berlin, wenn nicht Deutschlands wurde, der Kongresshalle.

Die Kongresshalle war von Anbeginn auch ein politisches Projekt. Als sie vor fünfzig Jahren von den Amerikanern im Rahmen der ersten Internationalen Bauausstellung den Berlinern übergeben wurde, wirkte sie als zentrales Symbol im Kalten Krieg. Wie das Hansaviertel war sie als Gegenprojekt zur Stalinallee im Osten geplant worden. An der Grenze der bipolaren Welt verkörperte das Gebäude in seiner Architektur die Werte der Freiheit und Demokratie. Diese Werte wurden als ein Beitrag des Westens zu einer universellen Weltordnung verstanden. Die Expressivität der Form stand dabei so sehr im Vordergrund, dass trotz aller Bewunderung auch immer wieder der Vorwurf aufkam, dass hier die Form sich von der Funktion des Gebäudes gelöst habe.

1980 stürzte dann das Dach des Gebäudes ein. Die Wiedereröffnung als Haus der Kulturen der Welt Ende der achtziger Jahre erlaubte einen neuen Blick auf die bereits vor dem Fall der Mauer veränderte Weltsituation. Der Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten und der postkoloniale Diskurs hatten zunehmend Zweifel an dem Universalismusanspruch der westlichen Moderne aufkommen lassen. Es wurde deutlich, dass dieser Universalismus eine ganz spezifische historische Entwicklung ist, die in der europäischen Aufklärung wurzelt, die wiederum in nicht unerheblichem Maße von christlich-jüdischen Traditionen geprägt ist. Verliert der Universalismus aber seine Funktion als Deutungsmodell für die Welt, eröffnen sich ganz neue Weisen des Verstehens und der Interpretation kultureller und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Das gilt bereits für die Geschichte der Coatlicue. Octavio Paz porträtiert in dem genannten Artikel das Museo Nacional de Antropologia als einen kontextfreien Raum, in dem es nur um die ästhetische Erfahrung der Objekte geht. So unschuldig ist dieser Ort aber dann doch nicht. Vielmehr ist das in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebaute Museum ein nationales Projekt, das in seiner Präsentation von Objekten die Geschichte des Nationalstaates erzählt, so wie sie von offizieller Seite verstanden wird. In dieser Geschichte wird die aztekische Kultur als Höhepunkt der präkolumbianischen Gesellschaft gesehen, die somit die Wurzel, der Bezugspunkt für die eigene Identität darstellt. Da Octavio Paz diese interessegeleitete Position, die sich mit seiner eigenen weitgehend deckt, nicht selbst reflektiert, kann er eine universalistische Position einnehmen, die der Skulptur ihren Kontext nimmt.

Kunst, Politik und Geist arbeiten vor diesem Hintergrund gemeinsam an einem universalistischen Projekt. Da dieses nur eine Geschichte kennt, bedarf es hier keiner Kontexte. Diesen Prozess der Bildung eines modernen Nationalstaates zeichnen auch die Murales von Diego Riviera im Präsidentenpalast nach. Auch Riviera beschreibt die Geschichte Mexikos als eine lineare Entwicklung von einer mit der Natur verbundenen Indiogesellschaft bis hin zu einem aus der Revolution hervorgegangenen, unabhängigen Staat.

Interessanterweise waren die Mexikaner selbst lange Zeit Opfer dieses linearen Erzählmusters der Moderne, deren Künstler sich selbst als kontextlos, aus dem Nichts schaffend verstanden. Erst in den letzten Jahren z.B. ist herausgearbeitet worden, wie stark Jackson Pollock von der drop-painting Methode eines David Alfaro Siqueiros gelernt hat.

Bei genauem Hinsehen erweist sich aber gerade im Falle Mexikos die Konstruktion der Moderne als eine spezifische Moderne. Zwischen indianischem und europäisch-kolonialem Erbe entwickelt sich eine eigene Sprachen- und Formenwelt, die in ein dynamisches Verhältnis z.B. zu der sich seit den dreißiger Jahren rapide entwickelnden nordamerikanischen Moderne tritt. Der Einfluss von David Alfaro Siqueiros auf Jackson Pollock ist dabei eins der berühmtesten Beispiele.

Greift man heute das Paradigma einer einzigen universalistischen Moderne auf, dann eröffnet sich plötzlich die Sicht auf eine Vielzahl verschiedener, miteinander verbundener Modernen. Dies wird u.a. auch in der derzeitigen Biennale von Venedig vorgeführt.

Beim Betreten des italienischen Pavillons in den Giardinis begegnete man Malereien, die der westliche Besucher zunächst der Tradition der Abstraktion zuordnen würde. Bei genauerem Hinsehen fällt dem Betrachter dann die sehr eigene Erdfarbigkeit der Bilder auf und wie das scheinbar konstruktivistische Verfahren aus dem Bild ausbricht und auf die Wand ausgreift. Irritiert durch diese Erfahrung, erhält der Besucher dann genauere Informationen durch den Katalog. Dort erläutert der Kurator Robert Storr den Kontext der Arbeit Odili Donald Oditas, der in Enugu in Kenia geboren wurde und heute in New York lebt. Zunächst verweist Storr darauf, dass in der westlichen Kunstgeschichte die Abstraktion eine Reaktion auf repräsentationale Bildverfahren war. Wurde in diesen eine äußere Wirklichkeit abgebildet, ging es in der abstrakten Malerei darum, die Eigenschaft, Farbe, Form, Materialität des Bildes selbst zu thematisieren. Dieser historische Zusammenhang liegt aber in vielen Gesellschaften in dieser Form überhaupt nicht vor, insbesondere etwa in einigen orthodox-islamischen oder jüdischen Gesellschaften, die einem Abbild-Verbot unterliegen. Im Subsahara-Kontext wiederum sind für unser westliches Verständnis abstrakte Bilder in der Regel aus Bildverfahren hervorgegangen, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur, bzw. auch spirituelle Kräfte kodifizieren, also in gar keiner Weise auf abstrakte Bildstrategien zurückgehen.

Damit stellt Storr die Arbeit von Odita in den Kontext einer eigenen Bildkultur, einer eigenen Sprache der Moderne.

Wenn wir den Universalismus der westlichen Moderne aufgeben und ihn durch verschiedene Modernen ersetzen, müssen wir dann davon ausgehen, dass diese als feste Kulturblöcke einander gegenüberstehen? Nein, dies entspräche der Weltsicht Huntingtons, der einen Kulturkampf zwischen den bestehenden Kulturblöcken vorausgesagt hat. Unsere Welt ist aber viel komplexer.

In New Delhis Call-Zentren beraten Inder Kunden in Berlin. Die britische Sportwagen-Marke MG wird seit dem 27.3.2007 in Nanjung hergestellt. Karikaturen in einer dänischen Zeitung entfachen eine Auseinandersetzung, die von Europa bis nach Indonesien reicht und wesentlich innerhalb transnationaler muslimischer Netzwerke verläuft. Die antithetische Weltordnung des Kalten Krieges hat sich grundlegend gewandelt und damit auch die Aufgabenstellung eines Hauses der Kulturen der Welt. Die Entgrenzung der Wirtschafts- und Finanzmärkte, die Vernetzung durch die Kommunikationstechnologie, aber auch eine wachsende Migration haben traditionelle Grenzziehungen obsolet gemacht. Dies gilt insbesondere für den Kulturbetrieb. Im so genannten Süden werden immer neue Kunstbiennalen ins Leben gerufen. China plant alleine die Gründung von 1000 neuen Museen. Die Mona Lisa wird demnächst am Persischen Golf zu besichtigen sein. Bollywood, die indische Alternative zu Hollywood, eroberte in den letzten Monaten Europa. Wichtige Künstler Afrikas, Asiens und Lateinamerikas kommen in die Metropolen des Nordens und umgekehrt zieht es immer mehr Künstler des Nordens in den Süden, um dort zu arbeiten.

Wie können wir also diesem Phänomen gerecht werden und der Wahl zwischen Skylla und Charybdis, zwischen gleichmachendem Universalismus und Kulturkampf entgehen? Hier hilft eine Reflexion auf den Namen unserer Institution weiter, denn die Spannung, die zwischen diesen Alternativen angelegt ist, findet sich auch im Namen unserer Institution wieder: „Haus der Kulturen der Welt“. Das Haus steht für einen klar definierten Ort, seine Mauern grenzen es gegen die Welt ab. Es bietet Schutz und Sicherheit vor Eindringlingen von außen. Die Bewohner fühlen sich dagegen an diesem Ort „zu Hause“. Nicht von ungefähr leitet sich das deutsche Wort „Heimat“ von „Heim“ ab. Es ist der Ort, an dem sich Menschen verwurzelt fühlen. Ein solcher Ort hat eine konkrete Geschichte. Die Geschichte unseres Ortes ist eine äußerst wechselhafte, die zutiefst mit der deutschen Geschichte verwoben ist. 1848 diente der Ort, der damals noch „In den Zelten“ hieß, den März-Revolutionären als politischer Versammlungsort. Hier wurden die Ideen der März-Revolution geschmiedet, von hier nahmen sie ihren Ausgang. Später dann, nach dem Bau der Kroll-Oper, wurden hier Werke von Paul Hindemith und Arnold Schönberg aufgeführt. Als am Abend des 27. Februar 1933 der Reichstag abbrannte, wurde die Kroll-Oper die Bühne für Hitler, auf der er nicht nur das Ermächtigungsgesetz durchdrückte, sondern auch den Überfall auf Polen rechtfertigte. Wir befinden uns hier also auf einem verminten Gelände deutscher Geschichte.

Aber statt eines deutschen Nationalmuseums wurde Ende der fünfziger Jahre eine Institution gegründet, die Deutschland der Welt öffnen sollte, zunächst der transatlantischen, dann später der nichteuropäischen und heute der globalen.

Die Welt ist in dem Namen unserer Institution dem Haus gegenübergestellt. Das Haus bietet zwar Schutz, kann aber auch beengen. Seine Sicherheit wurde immer auch mit einem Stück Freiheitsverlust erkauft. Die Ruhe des konkreten Ortes kann auch Verzicht auf die Vielfalt des Lebens bedeuten. Von der Lebensform her lässt sich dem Hausbewohner der Nomade gegenüberstellen. Der Nomade bleibt nie an einem festen Ort, ständig überschreitet er Grenzen, das Feste, Bestimmte wirkt auf ihn einengend, er liebt das Offene, Weite, das Fließende, die Bewegung.

Es handelt sich bei dem Hausbewohner und dem Nomaden nicht nur um Lebens-, sondern auch um Denkweisen, wie die Geschichte zeigt. Ich möchte nur auf einige Beispiele hinweisen. Der griechische Philosoph Parmenides ist ein Hausbewohner, wenn er die Einheit, die Unveränderlichkeit und die Unvergänglichkeit des Seienden proklamiert. Heraklit dagegen erweist sich als ein Nomade des Denkens, der das fließende der Dinge betont: „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht.“ (Die Vorsokratiker, Hrsg. von Wilhelm Capelle, p. 132). Im Extremfall kommen beide Geisteshaltungen sogar in derselben Person vor. Während Ludwig Wittgenstein im „Tractatus“ der zwanziger Jahre eine logische Ordnung der Welt baut, löst er in seinem Spätwerk, also u.a. den Philosophischen Untersuchungen sein Denken durch eine aphoristische Form in Bewegung auf.

Nicht immer haben die Menschen die Möglichkeit, die Lebensform zu wählen, die sie möchten. Wenn der chinesische Künstler Ai Wei Wei 1001 Chinesen nach Kassel zur Documenta einlädt, die ihr Land zuvor nie verlassen haben, dann macht er u.a. darauf aufmerksam, dass es neben ihm als Weltreisendem eine Vielzahl von Chinesen gibt, die es sich nicht leisten können, das Land zu verlassen. Umgekehrt sind in den letzten Jahrzehnten Millionen von Menschen gezwungen worden, aus ihrem Land zu fliehen und ins Exil zu gehen.

Nomaden und Hausbewohner sind Idealtypen, die in ihrer Reinform nur in seltensten Fällen anzutreffen sind. Das gilt auch für Gesellschaftsformen. Es gibt Phasen, in denen sich eine Gesellschaft nach innen konsolidieren muss, um nicht auseinander zu fallen, und es gibt Phasen, in denen sie sich nach außen öffnen muss, will sie nicht erstarren.

In der heutigen Situation beobachten wir, dass beide Prozesse parallel ablaufen, ja ablaufen müssen.

In einer Welt, die gekennzeichnet ist durch die Verdichtungsprozesse der Globalisierung, das Schrumpfen räumlicher Distanzen und die Parallelität verschiedener Zeiten, erscheint das Reisen als ein natürlicher Habitus des Weltbürgers. Wir müssen uns mit anderen Weltgegenden auseinandersetzen, weil deren Entwicklungen direkte Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Die Rohstoffpreise, die aufgrund des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs ansteigen, beeinflussen die Ökonomie in Europa. Deutsche Soldaten sind in Afghanistan stationiert. Die europäische Geschichte ist zutiefst mit dem Nahen Osten verbunden. Sich mit diesen Gesellschaften auseinandersetzen heißt sich mit der Zukunft unserer Gesellschaft zu beschäftigen. Deshalb müssen wir reisen.

Dem Nomaden, dem Reisenden muss aber gesagt werden, dass eine für alle grenzenlose Welt, die keine Bezugspunkte mehr kennt, dem Menschen Geborgenheit und Sicherheit raubt, ihn einer Wirklichkeit aussetzt, in der er sich aufgrund eines fehlenden Rahmens nicht mehr orientieren kann. Wenn alle reisen, gibt es kein Ankommen und kein Abreisen mehr, Orte verschwinden. Die Enge macht im Extremfall einer Weite Platz, die nicht mehr Offenheit, sondern Verlorenheit ist. Der Bewegung der Körper im Raum kann das Denken und Fühlen der Personen nicht folgen.

Aufgrund der sehr schnellen Veränderungsprozesse, die unsere Gesellschaft treffen und verunsichern, ist es also normal, dass Menschen die Frage stellen „Wer sind wir?“ Sie wollen wissen, was ihre Identität ausmacht. Kurzum sie wollen für sich ein Ordnungs- und Orientierungsgefüge, also in unserem Bild ein Haus bauen, das ihnen Sicherheit gibt. So legitim und verständlich dieses Unterfangen ist, sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, was dieser Hausbau impliziert.

Zunächst bedeutet er nämlich, dass Entscheidungen getroffen werden, welche aus der Vielzahl von Materialien für den Hausbau ausgewählt werden, welche Architektur und welches Innendesign das Haus prägen sollen. Es findet also eine radikale Reduktion von Möglichkeiten statt. Bezogen auf das Thema deutscher oder europäischer Identität, stellen sich folglich eine Reihe Fragen: Welche Rolle spielt die arabische Kultur beim Übergang von der Antike zu Renaissance und Aufklärung? Wäre das Werk Johann Wolfgang Goethes ohne Shakespeare oder Hafiz denkbar? Genauso können wir aber auch im Hinblick auf das zwanzigste Jahrhundert fragen. Beispielsweise ist die Kongresshalle gebaut von Hugh Stubbins, einem amerikanischen Architekten, der u.a. bei Walter Gropius in Harvard Architektur studiert hat. Vor der Kongresshalle steht die Statue des Engländers Henry Moore, dessen Werk zutiefst von nichteuropäischen Kulturen beeinflusst ist. Für die „US-amerikanische“ Literatur stellte Paul Auster einmal fest, dass „der Franzose Flaubert den Iren Joyce sehr beeinflusst hat, der den Südamerikaner Gabriel García Márquez stark beeinflusst hat, der Toni Morrison stark beeinflusst hat.“ (Paul Auster 101)

Diese Begrenzung von Möglichkeiten, die notgedrungen bei diesen Identitätsfestlegungen erfolgt, kann je nach Situation den Menschen oder eine Gesellschaft auf nur eine Dimension reduzieren. So weist Amartya Sen darauf hin, dass westliche Staatsmänner immer wieder durchaus wohlmeinend betonen, dass ein guter Muslim ja tolerant ist. Ihnen entgeht dabei, dass sie ihr Gegenüber dabei nur aufgrund von dessen Religionszugehörigkeit betrachten, also in eine einzige Kategorie stecken. Sie verengen damit dessen Argumentationsraum und lassen ihm vor allem keine freie Wahl, zwischen den verschiedenen Möglichkeiten seiner Person zu wählen. Der betreffende Muslim kann ja Agnostiker, Säkularist etc. sein, die Religion muss in seinem Leben keine zentrale Rolle spielen. Er kann sich z.B. vor allem als Wissenschaftler, Familienvater oder Sportler verstehen. Die Fixierung auf den Islam in dieser Auseinandersetzung engt Freiheitsräume des Gegenübers ein und verbaut im Konfliktfall den Blick auf Lösungswege, die im sozialen, politischen oder weiter gefassten kulturellen Bereich liegen könnten.

Beim Hausbau kann es allerdings auch passieren, dass Elemente in dem Haus verwendet werden, die es auch in anderen Häusern gibt, die aber aufgrund der besonderen Zusammenfügung als ureigen angesehen werden, die der Hausbewohner, um einen neudeutschen Ausdruck zu benutzen, als Alleinstellungsmerkmal für sein Haus betrachtet. So wird die Demokratie von vielen als ein ureigener Exportschlager des Westens angesehen. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die besondere Form, die die Demokratie in den letzten 200 Jahren in Europa und den USA angenommen hat, spezifisch für diesen Raum ist. Gleichwohl gilt es darauf zu verweisen, dass es auch in anderen Gesellschaften durchaus Traditionen demokratischen Denkens gab. Ein gutes Beispiel findet sich in Nelson Mandelas Buch „Long Walk to Freedom“, wo er auf seine Erfahrungen als Jugendlicher bei lokalen Zusammenkünften hinweist, Erfahrungen, die völlig ohne westlichen Einfluss in ihm ein Verständnis für demokratische Verfahren weckten:

„Everyone who wanted to speak did so. It was democracy in its purest form. There may have been a hierarchy of importance among the speakers, but everyone was heard, chief and subject, warrior and medicine man, shopkeeper and farmer, landowner and laborer.” (Mandela p. 55)

Was wir also benötigen in einer immer enger zusammenwachsenden Welt ist ein permanentes Hin und Her zwischen dem Bauen des Hauses und der Bewegung des Reisends. Das heißt aber der Hausbau, so wichtig er ist, wird nie abgeschlossen sein. Es ist die Situation von Sisyphus, der immer wieder von neuem beginnt, den Stein den Berg hoch zu rollen, ohne je den Gipfel zu erreichen. So könnten wir etwa auf einer Reise feststellen, dass andere Gesellschaften auch begonnen haben, am Zimmer der Demokratie zu bauen. Statt ihnen aufzuzwingen, unsere Blaupause eins zu eins zu übernehmen, ließe sich das Konzept gemeinsam weiterentwickeln. Wenn wir auf unseren Reisen in islamische Länder die Größe und Bedeutung dieser Kulturen, die sich in der Vergangenheit von Indien bis nach Südspanien erstreckten, erkennen, fällt es leichter, die Beiträge dieser Kulturen für die eigene Gesellschaft, das eigene Selbstverständnis zu würdigen, und vor allem werden wir aufgrund von vielfachen Begegnungen mit Menschen aus der arabisch sprechenden Welt nicht mehr den Fehler machen, in einem nur den Muslim zu sehen.

Kurzum im eignen Haus werden permanent Mauern abgerissen und neu gebaut aufgrund der Erfahrung des Reisens. Die Bewegung nach außen ist dabei notwendig, um das Eigene besser zu verstehen. Aus dieser Logik erklärt sich für mich auch schlüssig, warum an dieser Stelle, die historisch durch die deutsche Nationalgeschichte so aufgeladen ist, heute ein Haus steht, das sich mit der Welt auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung mit der Welt ist nicht Selbstzweck von Philanthropen. Sie ist notwendige Bedingung zum Verständnis des Eigenen.

Vor diesem Hintergrund wird auch die Arbeitsweise des Hauses verständlich. Die einzelnen Projekte lassen sich als Bausteine verstehen. Sie werden entwickelt in der Auseinandersetzung mit der eigenen Gesellschaft, aber durch eine konstante Bewegung nach außen, sei es in eigenen Reisen, sei es unter Einbezug von Künstlern und Experten aus aller Welt. Es werden damit die Grundhaltungen von Alexander und Wilhelm von Humboldt zusammengedacht: Alexander, der in die Welt zieht, um sie reisend für sich und uns zu entdecken. Wilhelm, der zu Hause an der preußischen Gesellschaft baut. Auch die Architektur des Hauses kommuniziert diese Grundidee. Die Mauern grenzen natürlich den Innenbereich gegen den Außenbereich ab, aber sie wirken aufgrund der vielen Türen aus allen Himmelsrichtungen und der großen Glasfassaden wie eine osmotische Wand. Sie laden ein, ins Gebäude zu kommen und am Bauprozess teilzunehmen.

Dieser Geist prägt auch die Arbeit von Edisa Weeks, auf die ich stellvertretend für das umfangreiche Eröffnungsprogramm verweisen möchte. Seit dem 11. September 2001 ist ganz offensichtlich das Bedürfnis gewachsen, sich in seinem Haus abzuschließen. Weeks, aus New York kommend, möchte diese neuen, teilweise auch alten Mauern durchstoßen. „Darf ich in Ihrem Wohnzimmer ein Tanzstück aufführen?“, fragt sie dieser Tage die Berliner Stadtbewohner. In den Privatwohnungen gehen die vier Tänzer von Delirious Dance Co. verschiedene Liaisons mit den Zuschauern und untereinander ein. Zu den eingängigen Melodien von Mantovani, dem König des Easy Listenings der 40er und 50er Jahre, spielt die Choreografie mit den ungelenken Momenten, die jeder Annäherungsversuch zwischen Unbekannten so mit sich bringt. Edisa Weeks, aufgewachsen in Uganda und Neu-Guinea und in Brooklyn ansässig, erkundet mit dieser Arbeit, worin Intimität oder Nähe zwischen Fremden bestehen kann: „Unsere Sozialisation lehrt uns, Fremde nicht anzustarren – was passiert, wenn man Unbekannte beim Zuschauen beobachtet?“

In der künstlerischen und theoretischen Auseinandersetzung, die Welt ins Haus, nach Berlin, nach Deutschland zu bringen und uns der Welt zu eröffnen, liegt die Aufgabe dieser einzigartigen Institution, deren Gebäude dieses Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag feiert. Oder um die Anfangsfrage zu beantworten: Die Welt ist nie ganz im Haus. Wir müssen immer wieder Mauern einreißen, neue Fenster schaffen, um noch mehr Welt ins Haus zu bringen. Das Rätsel des Titels ist sozusagen das Rätsel des Sisyphus in der Hausbauvariante.

Zum Abschluss lassen Sie mich noch eine kurze Geschichte vom Mulla und Sufi Nasrudin erzählen, die deutlich macht, was diese Überlegungen für die Gesprächskultur im Haus bedeuten.

Nasrudin wurde eingeladen, vor der Gemeinde eines nahe gelegenen Dorfes einen Lehrvortrag zu halten. Er stieg aufs Podium und begann:

„Liebe Gemeinde, wisst Ihr, worüber ich jetzt sprechen werde?“

Ein paar Halbstarke, die nur ihren Spaß haben wollten, brüllten: „Nein!“

„Wenn das so ist“, sagte der Mulla würdevoll, „werde ich von dem Versuch, eine so unwissende Gemeinde zu unterweisen, Abstand nehmen.“

Nachdem die Dorfältesten von den Störenfrieden das Versprechen erhalten hatten, dass sie ihre Bemerkungen unterlassen würden, baten sie in der folgenden Woche Nasrudin, noch einmal zu ihnen zu sprechen.

„Liebe Gemeinde!“, begann er wieder. „wisst Ihr, worüber ich jetzt sprechen werde?“

Einige Leute, die nicht wussten, wie sie reagieren sollten, da der Mulla sie herausfordernd anstarrte, murmelten „Ja“.

„Wenn das so ist“, erwiderte Nasrudin, „dann brauch ich ja nichts mehr zu sagen.“ Und er verließ den Saal.

Nachdem ihn erneut eine Abordnung der Dorfbewohner besucht und ihn angefleht hatte, es doch noch einmal zu versuchen, stellte er sich also ein drittes Mal vor die Versammlung.

„Liebe Gemeinde, wisst ihr, worüber ich jetzt sprechen werde?“

Da er auf eine Antwort zu warten schien, riefen die Dörfler: „Einige von uns wissen es, und andere wissen es nicht.“

„Wenn das so ist“, sagte Nasrudin schon im Gehen, „dann sollen die, die wissen, es denen erzählen, die nicht wissen.“


Bernd Scherer, August 2007