Beyond the Melting Pot
Beyond the Melting Pot
Immigration und ethnische Vielfalt in New York
von Nancy Foner
Die Stadt New York hat in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Wandel erfahren. Ursache war eine massive Einwanderungswelle, die – in erster Linie von Lateinamerika, der Karibik und Asien ausgehend – Millionen von Neuankömmlingen in die Stadt brachte. Mehr als jeder dritte Einwohner New Yorks ist Immigrant – das sind fast drei Millionen Menschen.
Man sagt gemeinhin, buchstäblich jedes Land der Welt sei in New York vertreten. Bemerkenswert ist die große Zahl von Menschen aus derart vielen Ländern auf jeden Fall. Die drei führenden Gruppen – Menschen aus der Dominikanischen Republik, aus China und aus Jamaika – machen nicht einmal 30 Prozent aller im Ausland Geborenen aus. Kein weiteres Land stellt mehr als fünf Prozent und es gibt eine beträchtliche Zahl von Einwanderern aus den Staaten der Karibik, Lateinamerikas, Asiens und Europas.
Eine der wichtigsten Auswirkungen dieser neuen Immigration liegt darin, dass sie die ethnische Dynamik der Stadt verändert. In ihrem inzwischen berühmt gewordenen Buch Beyond the Melting Pot von 1963 gliederten Nathan Glazer und Daniel Moynihan die Bewohner New Yorks in fünf Gruppen auf: Juden, Italiener, Iren, Neger und Puertoricaner. Für uns heute klingt das völlig überholt. In Politik und Alltag geht man in New York gegenwärtig von einer ethnischen Vierteilung in Weiße, Schwarze, Lateinamerikaner und Asiaten aus. Der asiatische und der lateinamerikanische Anteil nehmen zu; während der Anteil an Weißen zurückgeht. Im Jahr 2000 machten Weiße nur noch 35 Prozent der Bevölkerung aus – 1970 waren es noch 63 Prozent gewesen. Der asiatische Anteil stieg in diesem Zeitraum von zwei auf elf Prozent, der lateinamerikanische von 16 auf 27 Prozent und der Anteil Schwarzer von 19 auf 25 Prozent.
Die Zeiten, in denen lateinamerikanisch mit puertoricanisch gleichzusetzen war, sind vorbei; Puertoricaner (die in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts in großer Zahl zuwanderten) machen inzwischen gerade noch ein Drittel der lateinamerikanischen Bevölkerung aus und werden zahlenmäßig von der Gesamtheit der Menschen aus der Dominikanischen Republik, Mexiko, Ecuador, Kolumbien und dem restlichen Lateinamerika übertroffen. Auch asiatisch steht nicht mehr nur für chinesisch, sondern ebenso für koreanisch, indisch und philippinisch (um nur die größten Gruppen zu nennen). Der schwarze Bevölkerungsanteil, der noch vor 50 Jahren durchweg afroamerikanisch war, wird gegenwärtig „karibisiert“ – und eine steigende Zahl von Afrikanern sorgt für neue Impulse in der bestehenden Vielfalt. Insgesamt sind mehr als ein Viertel der 2,1 Millionen Schwarzen New Yorks im Ausland geboren.
Manche behaupten, die wachsende Zahl karibischer und afrikanischer Schwarzer rüttle an monolithischen Konzepten des Schwarzseins – und mache so die Weißen (wie auch andere) sensibler für ethnische Unterschiede innerhalb der schwarzen Bevölkerung. Lateinamerikanische Immigranten ihrerseits sehen sich oft eher der relativ neuen Latino-Kategorie zugehörig – und werden von anderen oft pauschal als Lateinamerikaner betrachtet – auch wenn die meisten von ihnen es vorziehen würden, ihren jeweiligen Herkunftsländern entsprechend eingeordnet zu werden.
Asiaten erleben zurzeit eine Metamorphose. Einst als „Gelbe Gefahr“ stigmatisiert, betrachtet man die Zuwanderer aus Ostasien inzwischen vielerorts als „Musterminderheit“. Sie rangieren in der ethnischen Hierarchie New Yorks gleich hinter den nicht lateinamerikanischen Weißen – und treffen in der Regel in der weißen Mittelschicht auf größere Akzeptanz als andere ethnische Minderheiten.
Es gibt auch eine beträchtliche Zahl von Neuimmigranten aus Europa, die das Spektrum der weißen Bevölkerung erweitern. Russland rangiert unter den Herkunftsländern New Yorks an 10. Stelle, Polen an 15. Alles in allem ist jeder vierte nicht lateinamerikanische Weiße im Ausland geboren. Unter der weißen Bevölkerung New Yorks sind (irische und italienische) Katholiken in der ersten, zweiten und dritten Generation sowie Juden dominierend. Weiße Protestanten sind praktisch unsichtbar, haben jedoch auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet immer noch großen Einfluss.
Die neue rassisch-ethnische Mixtur in New York verändert nicht nur die Wahrnehmung von Rasse und Ethnizität, sondern führt auch zu neuen Trennlinien, Allianzen und Beziehungen. Bedauerlicherweise bestehen Spannungen und Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen fort, wenn auch in veränderter Form und unter Einbeziehung neuer Gruppen. Was das Wohnen angeht, kommt die Rassentrennung zwischen Schwarzen und Weißen auch weiterhin in außerordentlich hohem Maße zum Tragen. Das hat ernsthafte Folgen für Hunderttausende Immigranten afrikanischer Herkunft. Schwarze New Yorker sehen sich, ebenso wie andere Nichtweiße, kontinuierlich Vorurteilen und Diskriminierungen unterschiedlichster Art ausgesetzt.
Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass schwarze und lateinamerikanische Einwanderer oft Abgrenzungsstrategien und Überlegenheitsgefühle gegenüber Afroamerikanern und Puertoricanern kultivieren. Diese ärgern sich ihrerseits über die Immigranten, da sie sich von ihnen zahlenmäßig, wirtschaftlich, politisch und was Wohnraum betrifft an den Rand gedrängt fühlen. Generell besteht bei Angehörigen ethnischer Bevölkerungsgruppen – ob nun aufgrund von Vorlieben oder aufgrund von Vorurteilen – die Tendenz, sich im täglichen Umgang auf ihresgleichen zu beschränken. In seiner Studie über den multiethnischen Stadtteil Queens mit seinem Mix aus Lateinamerikanern, Asiaten, Afroamerikanern und Weißen berichtet der Politologe Michael Jones-Correa von einander überlappenden Gruppen, die dennoch keinerlei gegenseitigen Kontakt haben. In den Neunzigerjahren erlebte die Stadt einige Boykott-Aktionen Schwarzer gegen koreanische Geschäfte. Aus vielen Vierteln wurde von Spannungen zwischen alteingesessenen Bewohnern und Neuankömmlingen berichtet – Flushing (in Queens) ist eines der Beispiele, wo viele alteingesessene Weiße den Zustrom und den wachsenden Einfluss asiatischer Gruppen missbilligen.
Mag all dies auch negativ klingen, so beleuchtet es doch nur einen Teilaspekt. Viele äußerst positive Entwicklungen stimmen eher zuversichtlich. David Dinkins (der erste und bisher einzige afroamerikanische Bürgermeister New Yorks) hatte durchaus Recht, als er während seiner Amtszeit in den Neunzigern die Stadt als prachtvolles Mosaik beschrieb. Tatsache ist, dass Angehörige unterschiedlicher ethnischer Gruppen im Großen und Ganzen friedlich miteinander koexistieren. Auch geht es nicht allein um Toleranz und Anpassung; oft entstehen auch ernst gemeinte Kooperationen und Interessengemeinschaften. Freundschaften entwickeln sich unter anderem in Schulen und Universitäten, auf Spielplätzen und bei der Arbeit, und zu bestimmten Themen und während bestimmter Aktionen bilden sich politische Allianzen.
Auch wenn New York viele ethnische „Wohn-Enklaven“ aufweist – Chinatown in Manhattan ist wohl die berühmteste von ihnen – ist die wachsende Zahl multiethnischer Stadtviertel die Basis für die Herausbildung interethnischer Bindungen. Wie Azadeh Khalili, stellvertretender Kommissar für Einwanderungsangelegenheiten der Stadt New York, kürzlich bemerkte: „Wo sonst leben muslimische, hinduistische, karibische und jüdisch-orthodoxe Familien Tür an Tür miteinander?“
Viele in Amerika geborene Menschen lateinamerikanischer oder asiatischer Abstammung haben nicht-lateinamerikanische weiße (Ehe-)Partner; die Zahl dominikanisch-puertoricanischer Eheschließungen wächst; und Verbindungen zwischen Afroamerikanern und Menschen karibischer oder afrikanischer Abstammung sind – besonders in der zweiten Einwanderergeneration – nicht ungewöhnlich. Überall in der Stadt bieten sich zahllose Beispiele freundschaftlicher Beziehungen zwischen Immigranten unterschiedlicher Herkunftsländer, ebenso zwischen Einwanderern und in Amerika Geborenen: am Arbeitsplatz, in der Schule und im nachbarschaftlichen Bereich.
Die vielleicht ermutigendsten Anzeichen für interethnische Kooperation finden sich in der zweiten Generation, die in einer Welt lebt, wo es ganz normal ist, seine Wurzeln woanders zu haben. Weil die Jugendlichen, die von Einwanderern abstammen oder einer bereits etablierten Minderheit angehören, ihre Altersgruppe zahlenmäßig dominieren – 63 Prozent der Unter-18-jährigen sind als Kinder von Immigranten in New York geboren oder im Kindesalter mit ihren Eltern eingewandert – haben sie in ihren Stadtvierteln und in kommunalen Einrichtungen viel Kontakt miteinander. Das stelle ich auch in meinen eigenen Kursen an der City University of New York fest, einer aus 17 Colleges bestehenden öffentlichen Mammuteinrichtung mit fast 200.000 Studenten vor dem ersten Abschluss. Ungefähr 40 Prozent der Studienanfänger wurden außerhalb des US-amerikanischen Festlands geboren. Studenten aus aller Herren Länder arbeiten im Unterricht zusammen, fühlen sich zunehmend wohler mit ihrer unterschiedlichen Herkunft und nehmen schließlich die unglaubliche ethnische Vielfalt in Seminaren, U-Bahnen, Geschäften und auf den Straßen als selbstverständlich hin.
Durch ihren unbeschwerten Umgang miteinander bringt die zweite Generation kulturelle Synthesen mit einem eindeutigen New Yorker Touch hervor. Soziologen beschreiben neue musikalische, umgangssprachliche und tänzerische Ausdrucksformen, die aus der Interaktion zwischen bemerkenswert vielen Bevölkerungsgruppen hervorgehen – dazu gehören Menschen aus Asien, Lateinamerika, der Karibik und vielen afrikanischen Ländern, aber auch in den USA geborene Afroamerikaner und Puertoricaner. Die neue musikalische Vielfalt inspiriert asiatische und afroamerikanische Stilrichtungen – den philippinischen und indischen Hip-Hop beispielsweise –, und der im Zentrum von Brooklyn unter schwarzen Jugendlichen gängige Straßenslang verquickt Elemente aus dem jamaikanischen Kingston, aus Port-of-Spain in Trinidad sowie dem amerikanischen Süden.
Ob es nun um Immigranten oder um ihre Kinder geht, klar ist, dass man sich in New York mit der Anwesenheit der Einwanderer und mit ethnischer Vielfalt wohl fühlt. Jede ethnische Gruppe – Weiße, Schwarze, Lateinamerikaner und Asiaten – schließt einen beträchtlichen Anteil Neueinwanderer mit ein, was dabei hilft, eine ganzheitliche Identität als Immigranten herauszubilden. Außerdem hat Immigration hier eine lange Geschichte – die Stadt ist für Einwanderer das klassische Tor nach Amerika. In New York ist man Immigration gewohnt und eng mit ihr verbunden. Die meisten New Yorker sind entweder selbst Einwanderer, oder sie haben einen Eltern-, Großeltern- oder Urgroßelternteil, der aus einem anderen Land stammt. Bemerkenswerte 60 Prozent der New Yorker Bevölkerung – also fast fünf Millionen Menschen – sind Immigranten der ersten oder zweiten Generation. Viele der fast eine Million Juden in New York – und Hunderttausende Italoamerikaner – haben Groß- oder Urgroßeltern, die im Zuge der letzten großen Einwanderungswelle vor 100 Jahren aus Europa kamen. Die New Yorker irischer Abstammung können ihre Wurzeln als Immigranten oftmals noch weiter zurückverfolgen, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Viele Schwarze in New York stammen von Einwanderern ab, die Anfang des 20. Jahrhunderts von den damals unter britischer Hoheit stehenden Karibikinseln kamen.
Gemeinhin erwartet man in New York ethnische Vielfalt – sie ist gewissermaßen eine unumstößliche Tatsache. In der St. Patrick’s Cathedral, dem Sitz der katholischen Erzdiözese New York auf der 5. Avenue, findet jeden Sonntagnachmittag eine Messe auf Spanisch statt. Und die flächendeckend aufgestellten Geldautomaten der Citibank bieten elf Sprachoptionen, darunter Chinesisch, Koreanisch und Spanisch. Selbst in so etwas Banales wie die Straßenverkehrsordnung hat die öffentliche Anerkennung ethnischer Vielfalt Eingang gefunden: Spezielle Feiertagsregeln für das Parken gelten an insgesamt 34 gesetzlichen und religiösen Feiertagen, dazu gehören das asiatische Neue Mondjahr, Purim und Passah, Mariä Himmelfahrt, das islamische Opfer- und das hinduistische Lichterfest.
Ethnische Vielfalt wird auf vielerlei Weise öffentlich zelebriert. Ämter und soziale Einrichtungen fördern aktiv Veranstaltungen, die das ethnische Selbstbewusstsein stärken und die multiethnische Eigenart und Geschichte der Stadt positiv herausstellen sollen. Praktisch jede ethnische Gruppe hat ihr eigenes Festival oder ihre eigene Parade. Die größte von ihnen ist die „West Indian American Day Parade“ auf dem Eastern Parkway in Brooklyn, die alljährlich Anfang September zum Labor Day ein bis zwei Millionen Besucher anzieht. Ausstellungen in Museen und Bibliotheken thematisieren den kulturellen Hintergrund verschiedener Immigrantengruppen und das Amt für Einwanderungsangelegenheiten richtet jährlich die „Immigration History Week“ aus, die in Dutzenden, auf die fünf Bezirke verteilten Veranstaltungen all das würdigt, womit Immigranten die Stadt bereichern.
Ethnische Politik ist das Lebenselixier der New Yorker Kommunalpolitik. Ihre Wurzeln hat sie in der langen Einwanderungsgeschichte der Stadt. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts machten es sich aufstrebende Politiker zur Regel, die drei „I“ zu besuchen – Israel, Italien und Irland – was für viele jüdische und katholische Wähler zum Prüfstein wurde. 2003, zwei Jahre nach seinem Amtsantritt, hatte Bürgermeister Michael Bloomberg bereits dreimal die Dominikanische Republik bereist; und im Mai 2005, als seine Wiederwahl anstand, ließ er den ersten seiner Wahlwerbespots auf Spanisch ausstrahlen. Ganz in der Tradition seiner unmittelbaren Amtsvorgänger gibt sich Bloomberg besondere Mühe, Immigranten als belebendes Element für die Wirtschaft und das soziale Leben der Stadt zu preisen.
Natürlich darf man sich nicht zu sehr vom Image New Yorks als eines vollkommenen Musterbeispiels ethnischer Integration hinreißen lassen. Die Stadt mag sich damit brüsten, alle Kulturen wertzuschätzen und jeden mit offenen Armen aufzunehmen, sie bleibt aber dennoch, wie schon gesagt, ein Ort außergewöhnlich deutlicher Abgrenzung, an dem Zugewanderte und hier geborene Angehörige ethnischer Minderheiten Benachteiligung und Diskriminierung oft genug schmerzlich zu spüren bekommen. Gleichzeitig gibt es aber auch ermutigende Anzeichen für kreative Interaktion zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. Aufgrund seiner Geschichte und seiner gegenwärtigen Eigenschaften erweist sich New York als ungemein aufgeschlossen gegenüber Immigranten und ethnischer Vielfalt. Einen ethnischen Hintergrund zu haben gilt als Normalfall. Der Soziologe Philip Kasinitz und seine Kollegen (Becoming New Yorkers: Ethnographies of the New Second Generation, Russell Sage Foundation Publications, 2004, S. 398) weisen zu Recht darauf hin, dass, wenn Italiener die Neuankömmlinge von gestern und das Establishment von heute sind, Kolumbianer (oder andere ethnische Gruppen) möglicherweise die neuen Italiener und das Establishment von morgen darstellen könnten. „Alte wie neue New Yorker erzählen sich das gerne. Die Vorstellung mag nicht ganz der Wahrheit entsprechen, doch die bloße Tatsache, dass Menschen ihr anhängen und sie glauben, ist bedeutsam und mag zu ihrer Verwirklichung beitragen.“
Aus dem Amerikanischen von Frank Süßdorf
Nancy Foner ist Distinguished Professor für Soziologie am Hunter College und am Graduate Center der City University of New York. Sie ist eine führende Expertin für die Immigration nach New York und Autorin vieler Bücher zum Thema, darunter: In a New Land: A Comparative View of Immigration, From Ellis Island to JFK: New York’s Two Great Waves of Immigration, und New Immigrants in New York.