Rede zur Eröffnung des Programms "meine Baustelle"

Bernd M. Scherer, 21.10.2006

Sehr geehrter Bundesaußenminister a. D., Herr Joschka Fischer,
Sehr geehrter Herr Sloterdijk,
Exzellenzen,
Meine Damen und Herren,

herzlich willkommen auf der Baustelle. Ich hoffe, Sie sind alle unbeschadet hier oben angekommen nach dem Weg durch den freigelegten Innenkörper des Gebäudes.

Baustellen markieren Zeiten des Umbruchs, da sind Wege nicht so gerade, Unebenheiten können zum Stolpern führen, Umwege notwendig werden. Wie nicht zuletzt das Berlin der neunziger Jahre illustrierte, gilt dies nicht nur für die Architektur, die Gebäude, sondern auch für das Denken.

Auch in diesem Sinne möchte ich Sie herzlich willkommen heißen auf meiner Baustelle, die – und davon möchte ich Sie überzeugen – ein Stück weit Ihre Baustelle sein könnte.

Wir befinden uns hier ja nicht in irgendeinem Gebäude der Stadt Berlin, sondern in einem Gebäude, dessen Mauern die Weltgeschichte der letzten Jahrhunderthälfte eingeschrieben ist. Als die Kongresshalle in den fünfziger Jahren von den Amerikanern im Rahmen der ersten Internationalen Bauausstellung den Berlinern übergeben wurde, war es ein zentrales Symbol im Kalten Krieg. Als ein Zeichen westlicher Nachkriegsmoderne war die Kongresshalle wie das Hansaviertel als Gegenprojekt zur Stalinallee im Osten geplant. An der Grenze der bipolaren Welt verkörperte das Gebäude in seiner Architektur die westlichen Werte der Freiheit und Demokratie. Diese Bedeutung behielt die Kongresshalle bis 1980, als ihr Dach einstürzte.

Bei ihrer Wiedereröffnung 1989 als Haus der Kulturen der Welt hatte sich die Blickrichtung geändert, die Grundkoordinaten waren jedoch dieselben geblieben. Die Institution beschäftigte sich jetzt mit nichteuropäischen Kulturen, das hieß mit der Dritten Welt, die seit den sechziger Jahren das bipolare Weltbild ergänzt hatte. Es war zu Beginn der neunziger Jahre, als sich Deutschland nach dem Fall der Mauer erneut der Welt öffnete, eine Hinwendung zu den Anderen stattfand, deren Exotismen anzogen, das Bild der Stadt bunter machten. Die erlebte Differenz wurde als Bereicherung verstanden. Nach innen war zunehmend Multikulti angesagt.

Diese kurzen Hinweise auf die Geschichte verdeutlichen, wie sich mit der geschichtlichen Entwicklung auch die jeweiligen Denkmodelle veränderten: der Universalismus, der der westlichen Moderne zugrunde lag und dem eine schwungvolle Architektur Ausdruck verlieh, wurde gegen Ende des Jahrhunderts unter anderem durch den postkolonialen Diskurs zunehmend von einem kulturellen Relativismus abgelöst. Meine These ist, dass weder der Universalismus der westlichen Moderne noch der kulturelle Relativismus uns in der heutigen Situation weiterhelfen.

Der westliche Universalismus verdankt sich spezifischer historischer Entwicklungen, die in der europäischen Aufklärung wurzeln, deren Denken wiederum in nicht unerheblichem Maße von christlich-jüdischen Traditionen geprägt ist. Solange die in dieser Tradition entwickelten Wertvorstellungen allein von den Vertretern des Nordens als universal behauptet und nicht mit dem Rest der Welt dialogisch verhandelt werden, kann es sich nur um einen Scheinuniversalismus handeln. Daran ändert auch der Rekurs auf die Vernunft nichts. Die Vernunft ist kein Gegenstand, den man hat und anderen überbringen kann wie ein Licht, das die Finsternis erleuchtet. Wer die Vernunft vergegenständlicht, hat sich ihrer schon entledigt. Die Vernunft kann deshalb auch nicht als Schiedsrichter auftreten, der sagt, was richtig und falsch ist, wenn zwei sich streiten. Eine Position, die von sich glaubt, die universelle Wahrheit zu besitzen, ohne diese mit den Anderen verhandelt zu haben, tritt anderen nur als Lehrmeister gegenüber auf. Von dem anderen zu lernen, ist dabei nicht vorgesehen. In dieser Hinsicht gibt es keine Gleichberechtigung. Wer sich konstant missachtet und nicht ernst genommen fühlt, macht mit Gewalt auf sich aufmerksam. Das Fehlen der Anerkennung als Gesprächspartner führt so zu einer latenten Kriegssituation. Es liegt in der Logik dieser Situation, dass der scheinbar Stärkere sie als solche gar nicht erkennt und deshalb verwundert ist, wenn es zu gewaltsamen Eruptionen kommt.

Der kulturelle Relativismus, der vielen Multikulti-Ansätzen zugrunde liegt, scheint in dieser Konstellation eine Lösung anzubieten, weil er den Allgemeingültigkeitsanspruch aufgibt. Für den Relativisten existieren verschiedene Überzeugungen, Wertsysteme und Glaubensvorstellungen völlig gleichberechtigt nebeneinander. Jeder soll glücklich werden nach seiner Façon. Universelle Maßstäbe existieren nicht. Je bunter die Welt ist, umso schöner erscheint sie den Relativisten. Hinter der scheinbaren Offenheit verbirgt sich aber letztlich eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen. Dieser wirkt allenfalls als Exot im Käfig interessant, als ernst zu nehmendes Gegenüber wird er nicht anerkannt. Es wird ihm nicht zugestanden, das eigene Ich von außen zu bespiegeln oder Anteil an einem Stück geteilter Welt zu haben. Der Andere wird so aus der eigenen Welt ausgeschlossen. Möchte er teilhaben, geht dies nur durch Grenzverletzung.

Wir haben heute eine Situation erreicht, wo die Position des Universalismus wie des Relativismus nicht nur argumentativ nicht mehr haltbar sind, sondern auch durch die faktische Lage in Frage gestellt werden. Latenter oder offener Krieg und Grenzverletzungen kennzeichnen heute unsere Welt. Was ist passiert?

Die Dynamik, die die Europäer in die übrige Welt geführt und ihrem Universalismus eine praktische Basis verschafft hat, kehrt sich um. Andere Gesellschaften erheben ihre eigene Stimme, nicht nur gestützt auf ihre demographische Entwicklung, sondern zunehmend auch aufgrund ihrer ökonomisch-politischen Macht. Die Grenzziehungen der kulturellen Relativisten, die Gemeinschaften und Gruppen eigene, selbst definierte Räume zugestanden, sind durch die Dynamik der Migration überholt.

Was ist zu tun? Statt zu kapitulieren, sollten wir diese Situation auch als Chance begreifen, indem wir die Anderen, aber auch unser eigenes Projekt zum ersten Mal wirklich ernst nehmen. Wir haben gesehen, dass sich partikularistische Lösungen angesichts der Globalisierung verbieten. Aber wir dürfen die Globalisierung auch nicht als einen naturgegebenen Prozess verstehen. Angesichts unterschiedlicher Wertesysteme und Weltentwürfe kann die eine Welt nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sie muss von uns hergestellt werden. Dazu sind Verhandlungen nötig. Bruno Latour hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass das Leitbild des Dialogs durch das Modell der Diplomatie ersetzt werden sollte. Und in der Tat scheinen ja die vielen Kulturdialoge mit der islamischen Welt uns nicht sehr viel weitergebracht zu haben. Das Aggressionspotential wächst.

Mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Diplomatie wird anerkannt, dass eine Konfliktsituation besteht. Diese wird weder universalistisch noch relativistisch harmonisiert. Und natürlich schickt der Westen seine Diplomaten ins Feld, um in den Verhandlungen seine Position zu vertreten, weil er diese Position für richtig hält.

In diesem Kontext ist die Rede Benedikts in Regensburg von doppeltem Interesse. Auf der einen Seite handelte der Papst wie der hier in Anschlag gebrachte Diplomat. Er vertrat eine klare Position zum Thema "Gewalt", die Muslime zumindest indirekt zur Stellungnahme auffordert. Gleichzeitig handelte er aber auch diplomatisch äußerst ungeschickt. Warum? Weil er die praktischen Konsequenzen seiner Rede nicht bedacht hatte. Uns allen ist ja noch der Aufschrei, der durch die muslimische Welt ging, in den Ohren. Hätte er also seine Position relativieren oder aufgeben sollen? Letzteres entspräche der Absetzung der Idomeneo-Oper.

Nein, absolut nicht! Er hätte vielmehr den Ernst seines Angebots zum Disput und die damit einhergehende Anerkennung des Anderen durch ein Bekenntnis zur Geschichte der Gewalt im Christentum unterstreichen sollen. Entscheidend für den Erfolg des Diplomaten ist es, dem Anderen glaubhaft zu vermitteln, dass er trotz der eigenen klar vertretenen Position auf gleicher Augenhöhe wahrgenommen wird. Aber noch eins macht dieses Beispiel deutlich: der Erfolg des Diplomaten erweist sich nicht allein in der Brillanz seiner Argumentation, sondern v. a. in der Berücksichtigung der politischen Gegebenheiten. Einen Disput zu gewinnen genügt nicht, wenn man anschließend in den Krieg ziehen muss. Das Diplomatiemodell verlangt bei der Auseinandersetzung mit den Anderen die Einsicht in die Verschränkung von Reden und Tun. So lässt sich dann auch der Vernunftbegriff präzisieren. Die Vernunft ist nicht eine unabhängige dritte Instanz. Man hat nicht Vernunft, sie erweist sich in der Verschränkung von Sprechen und Handeln. Wer im Sinne der Menschenrechte die Gleichheit aller fordert, dies aber in seinem Tun nicht realisiert, indem er die Position seines Gegenübers nicht ernst nimmt, handelt in diesem Sinne unvernünftig.

In wirkliche Verhandlungen eintreten, heißt aber auch, die eigene Position infrage zu stellen, die eigenen Erkenntnisse und Überzeugungen zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen. Es geht dabei nicht um ein vorzeitiges über Bord werfen der eigenen Ansichten, sondern um die Einsicht, dass diese sich durch die Einbeziehung der Perspektiven des Gesprächspartners verändern werden.

Diese Überlegungen verdeutlichen, warum uns ein Konsensmodell Habermasscher Auffassung nicht weiterhilft. Ein Konsens, der nur auf der Sprachebene unter Verweis auf eine ideale Sprechsituation getroffen wird, tut so, als ob er den Diskurs vom praktischen Leben trennen könnte. Trotz dialogischem Ansatz zeigt sich hier das klassische Erbe eines ontologischen Vernunftbegriffs bei Habermas und damit ein Rest von Metaphysik.

Die Rede Papst Benedikts erlaubt es nun, das Verhältnis von Kulturdialog und Diplomatie genauer zu fassen. Aus dem Umfeld des Papstes kam der Hinweis, dass sein Vortrag ja nicht an ein großes Weltforum, geschweige denn direkt an die Muslime gerichtet gewesen wäre, sondern sie sei in dem nur akademischen Zusammenhang der Aula Magna der Universität Regensburg gehalten worden. Anders ausgedrückt, sie sei nicht als eine politische, sondern als eine kulturelle Rede gemeint gewesen. Die Diplomatie lässt sich in diesem Sinne als der politische Dialog von dem kulturellen Dialog unterscheiden. (Zum Dialogbegriff siehe Kuno Lorenz: Einführung in die philosophische Anthropologie. Darmstadt 1990) Beim politischen Dialog stehen die Machtfrage und der "Tun-Aspekt" im Vordergrund, während beim kulturellen Dialog die Repräsentationsfunktion der Zeichen, ihre Bedeutung, im Zentrum des Interesses steht. Im kulturellen Dialog werden Sinnzusammenhänge entwickelt, im politischen Dialog werden sie verhandelt.

Die Wirkung der Rede Benedikts verdeutlicht allerdings, dass der kulturelle Dialog nicht ontologisch vom politischen zu trennen ist, dass es vielmehr sinnvoll ist, politische und kulturelle Aspekte an Dialogen zu unterscheiden. So kann, wie bei Papst Benedikt, aber auch beim Karikaturenstreit geschehen, ein kulturell gemeinter Dialog durch den Kontext zu einem politischen werden. Und es ist geradezu ein Zeichen der globalisierten Welt, dass die möglichen Kontexte von Rede vielfältiger und unvorhersehbarer geworden sind. Geradezu naiv oder fahrlässig erscheint es dagegen, in den oben beschriebenen Konflikt- ja Kriegsszenarien reine Kulturdialoge führen zu wollen.

Das Diplomatiemodell charakterisiert den Stil der Verhandlungsführung. Verfehlt wäre es aber in unserem Fall, den Diplomaten als Repräsentanten von Gesellschaften zu verstehen. Dann folgten wir in unseren Überlegungen einem Modell Huntingtonscher Prägung. Papst Benedikt, um bei unserem Beispiel zu bleiben, repräsentiert ja nicht den Westen. In den westlichen Gesellschaften gehören Muslime genauso dazu, wie es umgekehrt in der islamischen Welt sehr viele säkular denkende Menschen gibt. Die Grenzen sind noch nicht gezogen; wer mit wem bei dem Prozess, eine Welt herzustellen, auf derselben Seite steht, muss sich erst erweisen.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass das Haus der Kulturen der Welt nicht das Ziel haben kann, nur andere Kulturen vorzustellen. Es muss zentral um die Entwicklung unserer Gesellschaft gehen. Deren Zukunft hängt aber in der globalisierten Welt davon ab, dass es uns gelingt, in ernsthaften Verhandlungen mit den anderen Stück für Stück gemeinsame Weltabschnitte herzustellen. Genau dies möchten wir uns zur Aufgabe machen.

Wir leben auf der Baustelle, das Terrain ist vermint. Die Arbeit muss weitergehen. Zunächst hat jeder nur seine Form der Diplomatie einzubringen.

Dr. Bernd M. Scherer, Intendant des Hauses der Kulturen der Welt, Berlin