Interview Lin Hwai-min (Cloud Gate Dance Theatre)
Schönheit ist eine Waffe
Lin Hwai-min, der Gründer, Leiter und Choreograph der taiwanischen Tanzcompagnie Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan, im Gespräch über die Tradition der Kalligrafie, das Politische im Schönen und einen existenzrettenden Zufall.
IN TRANSIT: Wofür steht "Cursive"?
Lin Hwai-min: Die chinesische Schrift begann mit sehr einfachen, sehr verständlichen Zeichen. Die Sonne war ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte. Und ein sichelförmiger Halbkreis der Mond. Allmählich verwandelten sich die Zeichen in Typen. Die Sonne wurde ein Rechteck mit waagrechtem Strich in der Mitte. Der Mond ein schmaler Bogen mit zwei waagrechten Strichen. Über Jahre hinweg entwickelte man immer wieder verschiedene Variationen dieser Typen. Sie wurden in Holz oder Bambus geschnitten. Der Durchbruch kam mit der Erfindung des Pinsels, dessen Weichheit es ermöglicht, die Ecken von bisher scharf geschnittenen Zeichen abzurunden sowie den Strichen und Punkten eine eher “lyrische” Form zu geben. So war die Kalligrafie geboren.
Um das 5. Jahrhundert prägte sich der "Cursive Stil" heraus. Kalligrafie wurde eine Frage der Ästhetik. Die Zeichen veränderten sich und dienten nicht mehr dem einfachen Ziel, Bedeutungen mitzuteilen. Zunehmend wurden sie zum persönlichen wie künstlerischen Ausdruck – durchaus mit einem heutigen, abstarkten Kunstwerk westlicher Tradition vergleichbar. Die Kalligrafie wurde so abstrakt, dass es der breiten Masse nicht mehr ohne weiteres möglich war, sie zu entziffern. Diese Entwicklung wollten wir durch die Videoprojektionen in "Cursive", dem ersten Teil der Trilogy, verdeutlichen.
Die Kalligrafie ("Schönschrift") ist die Wurzel der chinesischen Kunst. Jeder Maler ist auch ein Meister der Kalligrafie. In Europa hängen Bilder in öffentlichen Gebäuden oder Privathäusern. In China bevorzugt man kalligrafische Tableaux. Man sieht sie überall meistens neben Tintenzeichnungen – durch diesen Kontrast erhöht sich ihre Wirkung noch.
IT: Versteht man in China immer die Bedeutung der unterschiedlichen Kalligrafie-Formen?
LIN: Eigentlich schon, aber der "Cursive-Stil" ist etwas anderes. Es bedeutet Inhalt und meistens handelt es sich dabei um Gedichte oder Sinnsprüche. Aber auch in China sind sie nicht für alle lesbar. Man muss sich mit der Kalligrafie auseinandergesetzt haben. Für die Eliten gehört die Schönschrift zur Allgemeinbildung, ein Ausdruck ihres Geschmacks und Charakters, eine Möglichkeit der Geselligkeit und Kontaktpflege. Man trifft sich, schreibt etwas, andere ergänzen das oder reagieren darauf. Nur indem man selber kalligrafiert, kann man Cursive-Schrift verstehen. Aber eigentlich geht es nicht um Bedeutung sondern um Schönheit.
Kalligrafieren und Bewegung sind eng miteinander verknüpft. Bevor man das Schreiben beginnt, wärmt man sich auf, macht seinen Körper weich und flexibel. Entscheidend sind dabei Rhythmus und Atem. Nur wer richtig atmet, ist ein guter Schreiber. Genau wie im Tanz. Ein Kalligraf ist ein Tänzer. Der eine hinterlässt seine Energie auf leerem Reispapier – der andere hinterlässt sie im Raum.
IT: Kann man die Cursive-Trilogie als Recherche zur Geschichte der Kalligrafie bezeichnen?
LIN: Um Himmels willen, nein. Ich habe noch nie recherchiert. Natürlich mache ich mich sachkundig. Inzwischen weiss ich viel über Kalligrafie. Aber das geschah, weil ich es geniesse, die Meisterwerke zu lesen, nicht aus systematischen Gründen. Immer wenn ich theoretisches Wissen direkt auf die Bühne übertragen wollte, bin ich damit gescheitert. Die Sachen wurden eindimensional. Also durfte die Cursive-Trilogie nicht von Geschichte und Tradition handeln, sondern umkreist Genuss und Spontanität.
Zum Thema Kalligrafie wollte ich schon seit 20 Jahren etwas machen. Früher sagten wir immer, eine gute Kalligrafie ist wie ein fliegender Drache oder ein tanzender Phönix. Die Buchstaben sollten tanzen. Daraus wollte ich etwas machen. Aber ich war nicht so weit. Erst 2001 waren wir in der Lage – weil die Tänzer traditionelle Körperdisziplinen gelernt hatten. Als wir 2001 mit "Cursive" begannen, war keine Fortsetzung geplant. Nach der Premiere wurde mir bewusst, dass wir ganz am Anfang einer Reise standen, auf der es noch viel zu entdecken gab. Ich würde den ersten Teil der Trilogie als den Beginn einer umfassenden Erkundung des Körpers nennen. Wir haben zwischen den einzelnen Teilen jeweils ein bis zwei Jahre Pause gemacht, damit die Tänzer ihr Kung Fu entwickeln konnten, das bedeutet für uns Chinesen, dass die Erfahrungszeit ebenso wichtig ist wie die Ausbildung selbst. Alle drei Teile sind nun sehr verschieden geworden, auch weil ich anfangs unzufrieden war. Ich spürte, dass ich da noch zu vieles reingepackt hatte. Daraus ist etwas unheimlich ernstes entstanden, fast zu ernst. Aber mit jedem weiteren Teil wurden wir immer befreiter in Form und Bewegung. Der dritte Teil ist umwerfend, weil Choreografie und Choreograf unsichtbar geworden sind. Das war schon immer mein höchstes Ideal. Der Tanz erscheint wie reine Improvisation, als gäbe es keine Struktur mehr. Die Choreografie verschwindet hinter der physischen Energie der Tänzer. Der Raum wird mit der Zeit immer grösser. Jetzt gefällt mir auch der erste Teil wieder, weil er als “erhabener” Ausgangspunkt dieser Reise vollkommenen Sinn macht.
IT: Kann die Trilogie ohne Grundkenntnisse kalligrafischer Prinzipien begriffen werden?
LIN: Manche sagen, dass ich den Ideen des Yin und Yang folge. Der Pinselstrich und der leere Raum, die Anstrengung und das Unangestrengte. Wegen der vielen Beinkicks halten manche die Stücke auch für eine Art Choreografie von Kampfhandlungen. Vielleicht ist das richtig. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Heute denke ich nicht so viel. Ich theoretisiere meine Arbeit nicht mehr. Das wichtigste für meine künstlerische Arbeit ist der Kontakt mit meinem Inneren, das ist der Speicherplatz aller Erfahrungen. Es war ein schmerzhafter Prozess, vom Schriftsteller zum Choreografen zu werden und dabei alle die Wörter in meinem Kopf auszulöschen. Dazu habe ich 20 Jahre gebraucht. Jetzt sehe und denke ich in Kategorien wie Bewegung und Kraft. Welche Energie geben meine Tänzer an das Publikum weiter - nur davon wird ein Publikum berührt. Es geht nicht darum, was sie sehen - sondern wie sie es sehen. Also können Zuschauer, die nichts von Kalligrafie verstehen, die Arbeit durchaus geniessen. Sie spüren etwas und sind einbezogen – das war bisher in allen Städten so, in denen wir die Stücke der Trilogie zeigten.
IT: Läuft abstrakte Schönheit nicht manchmal Gefahr, sinnfrei zu sein?
LIN: Schönheit, wie ich sie verstehe, basiert vor allem auf einer enormen Freiheit. Eine Freiheit, die man nur durch Disziplin erreicht. Schönheit inspiriert Gedanken. Sie ist eine Waffe. Die Schönheit und Stille der Cursive-Trilogie erfordert vom Zuschauer Konzentration und Geduld. Auf eine Art sind die drei Stücke eine Antwort auf das Durcheinander unseres täglichen Lebens. Man sollte nicht denken, dass die Trilogie unpolitisch ist.
IT: Welche Position nimmt ein so bekannter Künstler wie Sie in der komplexen politischen Lage Taiwans ein?
LIN: Als Cloud Gate 1973 gegründet wurde, herrschte das seit 1949 bestehende Kriegsrecht noch weitere 14 Jahre. Alles Geschriebene wurde zensiert, sogar Popsongs. Beim Tanz war das Zensieren schon schwieriger, da er viel interpretierbarer, also vieldeutiger ist. Einmal wurde ich dennoch aufgrund einer Reihe anonymer Anzeigen einbestellt. Die Zensoren entschuldigten sich bei mir dafür, gratulierten mir zur von ihnen inspizierten Aufführung und sagten, dass das Gespräch eine reine Formsache wäre, um den Fall abschliessen zu können. Wesentlich später habe ich erfahren, dass in höchsten Regierungskreisen die Schliessung von Cloud Gate verhandelt wurde. Aber sie entschieden sich, uns weiter machen zu lassen. Man darf nicht vergessen, dass ich die Compagnie gründete, als ich noch ein berühmter Schriftsteller war. Das hat uns lange geschützt. Aber wir hatten Angst. Ich habe immer wieder erlebt, wie Autoren ins Gefängnis kamen.
Die Nationalregierung bestand für lange Zeit darauf, dass wir uns alle als Chinesen sahen. Taiwan selbst füllte in den Geschichtsbüchern immer nur zwei bis drei Seiten, der Rest handelte von der Glorie der über 5000jährigen Geschichte des Festlandes.
1978 entstand mein Stück “Legacy”. Es handelte von der ersten Generation chinesischer Siedler auf Taiwan vor ungefähr 400 Jahren. Es war das allererste Mal, dass eine Theaterarbeit sich mit der Geschichte der Insel beschäftigte. Die Machthaber hätten das leicht als Aussage zugunsten einer Unabhängigkeit Taiwans von seinen chinesischen Wurzeln interpretieren können. Um einer entsprechenden Zensur zu entgehen, fand die Uraufführung weit weg von der Hauptstadt statt.
Ausgerechnet am Premierentag brach Jimmy Carter die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab. Plötzlich war der Regierung der Kuomintang, die sich bemühte, die Bevölkerung angesichts des amerikanischen “Betrugs” zu beruhigen, mein Stück sehr recht - ein unglaublicher Zufall. Auch danach habe ich immer wieder Reaktionen der Regierenden herausgefordert. Dazu fühle ich mich als Teil einer intellektuellen Elite verpflichtet, tue das aber meistens ausserhalb meiner Stücke. Um über wichtige Themen zu diskutieren, eignet sich die Direktheit von Sprache besser als der immer mehrdeutig interpretierbare Tanz. Ich mische mich ausgesprochen freimütig in tagespolitische Debatten ein. Aber ich habe mich nie von einer Partei vereinnahmen lassen. Ich spreche immer als Bürger. Dazu bin ich zu sehr ein einfacher Handwerker. Das Überleben von Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan nützt den Menschen mehr als wenn ich in die Politik ginge oder das Nationaltheater leiten würde. Wir öffnen den Horizont unserer Zuschauer. Wir ´nähren´ ihre Seelen.
Interview: Felix Schnieder-Henninger im Auftrag von IN TRANSIT 06; © www.kulturpr.com