Wang Dan: China, zwanzig Jahre nach Tian'anamen
Aus dem Englischen von Petra Huber
2009 jährt sich das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens zum zwanzigsten Mal, gleichzeitig naht der sechzigste Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China – es ist daher zu erwarten, dass über die alte Frage nach der Rolle Chinas in der Welt erneut und hitzigst gestritten wird. Umso wichtiger ist es meiner Ansicht nach, gerade jetzt neue Argumente in diesen Disput einzubringen.
Auch wenn man der eindrucksvollen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes in den letzten Jahren, gemeinhin als das „Chinesische Wunder” bezeichnet, Anerkennung zollen muss, darf keinesfalls vergessen werden, dass sich dieses „Wunder“ unter den Rahmenbedingungen einer Marktwirtschaft vollzogen hat, die der Kontrolle einer einzigen Partei untersteht. Die nach wie vor schier allmächtige Kommunistische Partei Chinas verhindert jede freie Meinungsäußerung und setzt ihre Politik ohne viel Federlesens geschweige denn Rücksicht auf die Belange der Mehrheit der Bevölkerung durch. Da es im Lande keine nennenswerte Opposition mehr gibt, kann die Partei nach Gutdünken regieren und jeglichen Widerstand ersticken.
Die Kommunistische Partei Chinas hat alles, was den Status quo gefährden könnte, bereits im ersten zarten Ansatz ausgemerzt. Darüber hinaus hält sie die gesamte Wirtschaft in eisernem Griff – was es ihr ermöglicht, ausländisches Kapital en masse ins Land zu locken und die negativen Auswirkungen weltkonjunktureller Schwankungen auf die chinesische Wirtschaft einigermaßen abzufedern. Da unter dem herrschenden Einparteiensystem die politische Arena für die chinesische Bevölkerung tabu ist, steckt diese all ihre Energie in die Sphäre des Wirtschaftens, was das Wachstum natürlich enorm ankurbelt. Bedenkt man die Tatsache, dass dieser wirtschaftliche Boom keinerlei moralische Bedenken kennt und eine bis dahin in China unbekannte Gier nach Materiellem entfacht hat, handelt es sich dabei jedoch um eine äußerst ungesunde Entwicklung.
Gefördert durch das Einparteiensystem haben sich allenthalben Opportunismus und Geldgier breitgemacht und folglich haben zahlreiche Parteimitglieder die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, sich im Zuge der Reformen an öffentlichem Eigentum zu bereichern. Parteisekretäre, die über Nacht zu Kapitalisten mutierten, nutzten ihren politischen Einfluss, um veritable Unsummen in ihren Besitz zu bringen, indem sie Unternehmensprofite abschöpften. Kurzfristig gesehen mögen solche Tendenzen sogar einigen Nutzen bringen, da sie für eine rapide Privatisierung der staatlichen Betriebe sorgen und somit die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Chinas beschleunigen. So sieht also das Geheimrezept aus, das hinter dem „Chinesischen Wunder“ steckt.
Ganz anders, als das gemeinhin erwartet wurde, haben die Reformen der letzten Jahrzehnte und das daraus resultierende Wirtschaftswachstum keineswegs zu mehr Freiheit oder mehr Demokratie geführt. Ganz im Gegenteil hat der Erfolg dieser Reformpolitik der chinesischen Regierung als optimaler Vorwand gedient, das Streben nach Freiheit und Demokratie ebenso brutal wie pauschal zu unterdrücken. Sowohl die ehemaligen Machthaber Deng Xiaoping und Jiang Zemin als auch Hu Jintao, der derzeitige Staatspräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei, haben den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes als Grund und zugleich Rechtfertigung ins Feld geführt, die friedliche Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 blutig niederzuschlagen und das Einparteiensystem auch weiterhin gewaltsam aufrecht zu erhalten.
Ziel der Privatisierungsbestrebungen der chinesischen Regierung ist es keineswegs, die Grundlagen zur Demokratisierung des Landes zu legen, vielmehr möchte sie es einer Handvoll von Eliten ermöglichen, sich in den Besitz öffentlichen Eigentums zu bringen. Unter dieser Prämisse mag die Privatisierung in der Tat zügiger vonstatten gehen als jede Privatisierung, die nach demokratischen Gesichtspunkten verliefe – nie und nimmer aber ist sie am Gemeinwohl ausgerichtet. Das kann man auch daran erkennen, dass sich die sozialen Konflikte in China vehement zuspitzen, und dies trotz mancher Anstrengungen seitens des Staates, die Lage benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Im Grunde möchte die Kommunistische Partei lediglich eines: die Konflikte ein Stück weit abmildern, um auf dieser Grundlage die zukünftige „nachhaltige Ausbeutung“ mittels „wohldosierter Unterdrückung“ sicherzustellen. Unterm Strich werden heute die demokratischen Kräfte auf der ganzen Welt Zeuge, wie sich in China Zug um Zug ein Regime etabliert, das ebenso rückhaltlos und diktatorisch vorgeht wie es sich in eitler Selbstzufriedenheit sonnt.
Die nächsten Jahrzehnte werden aber nicht allein für das Schicksal Chinas von enormer Bedeutung sein, sondern über das Wohl und Wehe der ganzen Welt entscheiden. Sollte China auf seinem derzeitigen Kurs beharren anstatt das Ruder in Richtung Demokratie und Freiheit herumzureißen, wird das für die ganze Welt katastrophale Folgen haben. Denn die Geschichte hat uns leider gezeigt, dass wirtschaftliche Kolosse, denen niemand demokratische Zügel angelegt hatte, unvermeidlich schlimmes Unheil anrichteten – die aktuellsten Exempel solcher Fehlentwicklungen waren Deutschland und Japan vor dem Zweiten Weltkrieg.
Was also kann Europa tun, um China zu unterstützen? Etliche hochrangige europäische Politiker haben die Meinung vertreten, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens vom 4. Juni 1989 gehöre „einer anderen Epoche“ an. Haben sie damit Recht? Ich verneine das: und zwar ohne Wenn und Aber. Viele der Aktivisten der Demokratiebewegung des 4. Juni leben heute gezwungenermaßen im Exil, da die chinesische Regierung ihre Rückkehr in die Heimat verhindert. Mein eigenes Schicksal mag als nur ein Beispiel von vielen dienen. Nachdem mein chinesischer Pass abgelaufen war, weigerte sich die chinesische Botschaft, ihn zu verlängern. Meine chinesische Staatsbürgerschaft wurde mir schlicht und simpel aus dem Grund aberkannt, dass ich 1989 der Demokratiebewegung angehört hatte. Auch sonst hat die chinesische Regierung nie von der Verfolgung derjenigen abgelassen, deren Autonomiebestrebungen am 4. Juni 1989 derart blutig vom Militär zerschlagen wurden. Noch heute ist es in China verboten, der am 4. Juni Getöteten zu gedenken – und das gilt ganz speziell für öffentliche Trauerbekundungen von Eltern, die bei dem Massaker Töchter oder Söhne verloren haben und die wir daher als „Tian‘anmen-Mütter“ bezeichnen. Wie könnte man angesichts solch zum Himmel schreienden Unrechts davon sprechen, dass sich die Menschenrechtssituation in China verbessert hätte?
Ich begreife durchaus, dass gute Beziehungen zu China wichtig sind. Meiner Ansicht nach könnte die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung sehr wohl vom Handel mit dem Ausland profitieren. Sobald die Welt ihr Augenmerk aber ausschließlich auf das Gedeihen der Wirtschaftsbeziehungen zu China legt, wird das Florieren der Ökonomie keinen Deut zur Herausbildung einer Zivilgesellschaft oder zur Steigerung des allgemeinen Lebensstandards in China beitragen.
Ende letzten Jahres unterzeichneten Aberhunderte chinesischer Intellektueller im Internet die Charta 08: es sei nunmehr höchste Zeit, jedem einzelnen Chinesen seine fundamentalen Menschenrechte zu gewährleisten. Die Veröffentlichung der Charta ist ein klares Signal, dass sich neben dem herrschenden totalitären Regime in China eine neue gesellschaftliche Bewegung zu regen beginnt – und nur in diesem Aufkeimen der Zivilgesellschaft sehe ich erste Hoffnung auf eine Erneuerung Chinas. Ich rate den westlichen Ländern dringend, der Entfaltung der chinesischen Zivilgesellschaft mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher, und zwar aus folgendem einfachen Grund: Wer Beziehungen zur derzeitigen kommunistischen Regierung unterhält, hat es mit dem China von Heute zu tun; wer dagegen zu der wachsenden Anzahl von Vertretern der chinesischen Zivilgesellschaft Beziehungen knüpft, hat es mit dem China von Morgen zu tun.
Dieses Anliegen möchte ich insbesondere den europäischen Regierungen ans Herz legen, da Europa in meinen Augen den Ursprungsort des Strebens der Menschen nach Freiheit darstellt. Die universale Wertschätzung Europas nährt sich aus eben dieser demokratischen Tradition und aus dem besonderen Wert, den Europa der Freiheit beimisst. Seit die chinesische Regierung aber versucht, Europa davon zu überzeugen, dass es absolut richtig gewesen sei, friedlich demonstrierende Studenten zu ermorden, seit die chinesische Regierung versucht, den Westen durch das Wedeln mit dem Scheckbuch hinters Licht zu führen und erste Erfolge erzielte, die rabenschwarze Kehrseite des „chinesischen Wunders“ vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu verschleiern, seit ich mitansehen muss, dass im Westen die bittere politische Realität in China mehr und mehr toleriert oder gar ignoriert wird, seither drängt sich mir folgende schmerzliche Frage auf: Verdient ein solches Europa überhaupt noch jene alte Wertschätzung? Sieht so die Weltgemeinschaft aus, für die so viele Demonstranten am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens ihr Leben geopfert haben?
Der Text ist ein Beitrag zu dem Buch 1989 - Globale Geschichten