SARS-COV-2 oder die Begegnung mit uns selbst.
Foto: Armin Linke, 2015
Sars-CoV-2 (Severe Acute Respiratory Syndrome-Coronavirus-2) dringt in unsere Welt ein. Es erzeugt eine planetarische Gegenwart, deren Verwerfungen und Ungleichheiten aufgrund der Katalysatorwirkung des Virus umso stärker hervor treten. Während uns aus dem globalen Süden Bilder eines brutalen Existenzkampfes erreichen, trifft es dieses Mal auch die europäischen Gesellschaften, die seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr eine solche grundlegende Krisenerfahrung kannten. Es verändert hier in Mitteleuropa tiefgreifend den Alltag, die Routinen, das Leben. Wir fassen Türklinken nicht mehr mit den Händen an, vermeiden Kontakt zum Treppengeländer, weichen anderen Passant*innen auf der Straße aus, schrecken zurück, wenn eine Freundin mit offenen Armen auf uns zukommt. Kurz, wir entfremden uns ein Stück weit von unserer Umwelt, indem wir die sinnlichen Begegnungen einschränken. Diese Entfremdung wird verstärkt durch die Verlagerung der meisten sozialen Kontakte – seien es die der Arbeitswelt, seien es die von Freundschaften – in die digitale Welt.
Eine Welt in der Schwebe
Die Welt, wie wir sie kennen, ist mit einem Male auf „Halt“ gestellt. Da wir die Logik dieser Welt noch nicht verinnerlicht haben, unsere Sinne und Reaktionen noch nicht in Form eines Alltagsverhaltens Routinen ausgebildet haben, reagieren wir oft mit Verzögerung, mit Irritation. Dadurch entsteht eine Welt im „Limbo“, eine Welt in der Schwebe. Sie wird geschaffen durch ein Virus, das eine todbringende Wirkung hat. Dieses Virus rückt Tag um Tag näher an uns heran, ohne dass wir es sehen. Die Einschläge häufen sich, Einschränkungen nehmen zu, und doch scheint noch die Sonne, bewegen sich Menschen auf der Straße, sind einige Geschäfte geöffnet. Wir befinden uns in einer unheimlichen Welt, die Edgar Allen Poe nicht besser hätte beschreiben können.
Es ist eine Situation, die wir so bisher nicht erlebt haben, für die wir keine eigene, auf unsere Lebensform bezogene Sprache ausgebildet haben. Im Versuch, ihr einen Sinn abzuringen, greifen viele auf Sprachbilder aus der Geschichte zurück. Es sind Erinnerungen etwa an die Pest, die im kulturellen Gedächtnis wachgerufen werden. Auch sie kam vermeintlich von außen und traf auf Gesellschaften, die in keiner Weise darauf vorbereitet waren. Ein Drittel der europäischen Bevölkerung wurde im späten Mittelalter von Pestepidemien dahingerafft. Es breitete sich eine düstere Atmosphäre aus, auf die bereits zeitgenössische Stimmen mit dem Ausdruck „Der schwarze Tod“ verwiesen. Die Erfahrung des Todes war so allgegenwärtig – die Toten konnten nicht mehr regulär bestattet werden, Leichen lagen in den Straßen –, dass die Menschen die Krankheit, die da über sie hereinbrach, nicht mehr als ein „natürliches“ Ereignis, sondern nur als Eingriff Gottes wahrnehmen konnten. Die Folge war eine Auseinandersetzung über Schuld und Strafe. Es begann die Suche nach einem Sündenbock, der mit den Angehörigen des jüdischen Glaubens nicht zum ersten Mal schnell gefunden war. Das Beispiel führt vor Augen: Die aufgerufenen Bilder sind nicht unschuldig. Sie entfalten eigene Logiken und entwickeln eine gesellschaftliche Wirkmacht, die weit über natürliche Prozesse hinausgeht.
Aber das Virus interveniert nicht nur in die Mikro-Kosmen unserer Alltagswelt. Vielmehr entfaltet es eine ungeheure Wirkkraft, die ganze Volkswirtschaften an den Rand des Kollapses bringt, globale Lieferketten außer Kraft setzt und Demokratien einem gewaltigen Stresstest unterzieht. Dabei erzeugt letztlich nicht das Virus diese Verwerfungen, sondern der Mensch aus Angst vor dem Virus.
Deshalb laufen auch in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedliche Prozesse ab. Das Erscheinen des Virus deckt dabei Logiken und Strukturen dieser Gesellschaften und Staaten auf. Sei es, dass der ungarische Premier Orbán das Parlament ausschaltet, dass China den Überwachungsstaat ausbaut, dass der israelische Ministerpräsident Netanjahu den Viren mit Instrumenten der Terrorbekämpfung begegnet. Zentralistische Regierungen wie die französische, in der der Präsident in Paris Regeln für das ganze Land anordnet, reagieren anders als föderalistische Gesellschaften wie die deutsche, in der ständige Abstimmungsprozesse zwischen Bund und Ländern stattfinden. Während die deutschen Regierungen auf Länder- und Bundesebene das Leben der Einzelnen von Anfang an in den Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse stellten, versuchte die britische Regierung zunächst im Sinne einer utilitaristischen Strategie eine Abwägung zwischen dem Leben Einzelner und dem Gesamtwohl der Gesellschaft vorzunehmen, indem sie auf eine Immunisierung der Gesellschaft durch Infektionen setzte, auch wenn dabei der Tod Einzelner absehbar war.
Nicht nur autoritäre politische Figuren sehen in Sars-CoV-2 einen Gegner, gegen den es Krieg zu führen gilt. Aber gerade ihnen erlaubt die martialische Sprache, sich als Feldherren in einer existentiellen Schlacht zu inszenieren, um abweichende Stimmen in der Bevölkerung auf Linie zu bringen. Aber wer ist eigentlich der Gegner, gegen den dieser Krieg zu führen ist? Wer oder was sind denn Viren? Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Viren als natürlichem Phänomen und ihrer Rolle als kulturellem Bedeutungsträger?
Viren folgen dem Programm: teilen, vermehren, mutieren
In der Forschung ist es umstritten, ob Viren überhaupt Lebewesen sind. Die Tatsache, dass sie sich vermehren können, deutet zwar darauf hin. Allerdings sind sie dabei auf einen Wirt angewiesen. Der Wirt bietet das Milieu, in dem sie sich teilen, in dem sie aber auch mutieren. Sie selbst verfügen nur über das Programm, das die Teilung und damit Vermehrung steuert, nicht aber über eigene Stoffwechselprozesse. Bezüglich des Programms sind Viren den Algorithmen der digitalen Welt vergleichbar. Dies begründet auch die virale Metaphorik bei der Beschreibung digitaler Prozesse. Insofern sind Viren keine selbstständig agierenden Einheiten und nicht als Lebewesen zu betrachten. Insofern kann man sie auch nicht im Sinne eines Krieges töten, sondern nur ihre Vermehrung stoppen, indem das Eindringen in die Zellen und damit die Vermehrung verhindert wird.
Im Fall der gegenwärtigen Pandemie wurden menschliche Zellen zu Wirten des Coronavirus, das wahrscheinlich von Fledermäusen über andere Tiere auf den Menschen übertragen wurde. In den menschlichen Zellen begann das Virus sich zu vermehren; der Mensch wurde zum Träger des Virus. In diesem Zuge wurden menschliche Lebensweisen, ökonomische Austauschprozesse sowie politische Strukturen zu den eigentlichen Medien der Vermittlung des Virus. Das Virus selbst als biologische Einheit verfügt nur über ein Minimum an Bedeutung, die laut Programm im Vermehren und Mutieren besteht. Die eigentliche Bedeutung erhält es durch seinen Träger, ohne den es nicht existieren kann. Auch darin ähnelt es dem binären Code des Algorithmus, dessen Eigenbedeutung nur in der Differenz zweier Zeichen – wahlweise + und - oder 1 und 0 – besteht, der aber seine Wirkmacht durch das Programmieren und damit durch menschliches Handeln erhält.
Die Defizite einer anthropozänen Welt
Vor dem Hintergrund seiner biologischen Funktionsweise wird nun die eigentliche Rolle des Coronavirus klar – und damit seine Bedeutung für unsere Zeit jenseits von Referenzen auf bestehende Sprachbilder oder machtpolitische Funktionalisierungsversuche: Es nistet sich in einen Träger ein, nämlich in die Menschen, die seit geraumer Zeit den Planeten umgestalten. Diese Transformation des Planeten durch den Menschen wird als Anthropozän bezeichnet. Das Coronavirus interveniert nun in die Logiken der anthropozänen Welt. Oder genauer formuliert, es sind die Menschen, die dank ihres Gastes, des Virus, die von ihnen geschaffene anthropozäne Welt einem Stresstest unterziehen. Dies ist kein von Menschen intendierter Prozess. In ihm tritt der Mensch zunächst als natürliche Spezies auf, als Träger und Übermittler von Viren. Diese greifen die durch Menschen geschaffene Welt an. Durch die rasante Vermehrung von Sars-CoV-2 und seine Weitergabe werden Strukturen und Defizite dieser Welt wie unter einem Brennglas ausgeleuchtet und auf die Probe gestellt. Dabei sind Menschen ebenso Akteur*innen wie Betroffene der ablaufenden Prozesse, Kultur- wie Naturwesen.
Die Vorstellung des Menschen als Akteur vor einer mehr oder weniger konstanten Naturkulisse weicht dynamischen Prozessen, in denen sich menschliches Handeln, technologische Operationen und natürliche Prozesse ineinander und miteinander verwoben entfalten.
Das Merkmal des Anthropozäns besteht darin, dass der Mensch durch die selbst geschaffenen Technologien und Infrastrukturen so tief in das Erdsystem eingreift, dass er nicht nur den Planeten als Ganzes transformiert, sondern auch das bisherige Gleichgewicht aus der Balance bringt. Dies zeigt sich daran, dass wesentliche Erdparameter vom Anstieg des CO2-Gehalts bis zur Versäuerung der Meere, vom Wasserverbrauch bis zur Herstellung von Plastik exponentiell ansteigen – ein Phänomen, das die Wissenschaft als „Great Acceleration“ bezeichnet. Der Klimawandel, von dem wir in den letzten Jahren zunehmend betroffen sind, ist eine Konsequenz dieser Entwicklung. An ihm zeigt sich, wie menschliches Handeln sich mit natürlichen Prozessen verbindet, so dass die von der westlichen Moderne geprägte Trennlinie von Kultur und Natur sich auflöst. Nicht nur wird der Klimawandel wesentlich durch menschliches Handeln befördert. Er löst auch Migrationsprozesse aus, die alle Gesellschaften grundlegend verändern. Menschliches Handeln gefährdet dabei auch das Überleben anderer Spezies auf der Erde, so dass ein Massensterben droht. Die Vorstellung des Menschen als Akteur vor einer mehr oder weniger konstanten Naturkulisse weicht dynamischen Prozessen, in denen sich menschliches Handeln, technologische Operationen und natürliche Prozesse ineinander und miteinander verwoben entfalten.
Ein grundlegendes Problem vieler dieser anthropozänen Prozesse besteht darin, dass sie nicht unmittelbar erfahrbar sind und deshalb auch keine Strategien entwickelt wurden, um mit ihnen umzugehen. Das hat wesentlich mit den Skalierungseffekten zu tun. Wir erleben zwar Trockenheit und Regen, aber nicht die Klimaveränderungen über längere Zeiträume. Wir unternehmen zwar Fernreisen, können aber nicht fassen, was es für den Planeten bedeutet, wenn täglich mehr als zweihunderttausend Flugzeuge Millionen von Menschen um die Erde transportieren. Das Virus führt uns nun die Konsequenzen einer im Rahmen der Great Acceleration exponentiell angestiegenen Mobilität vor Augen, in der Flüge über den Atlantik oder Reisen nach Fernost Teil der beschleunigten ökonomischen Austauschprozesse sind. Es sind genau diese Mobilitätsstrukturen, die zum Transportmittel des Virus werden. Die Nichtsichtbarkeit des Virus und die Inkubationszeit der von ihm verursachten Erkrankung von bis zu zwei Wochen hat zur Folge, dass potenziell jeder Freund, jede Nachbarin, ja jeder Mensch, dem wir begegnen, ansteckend sein und von uns angesteckt werden kann. Wir sind also gezwungen, in einer Welt zu navigieren, die potentiell unsere Existenz gefährdet, deren spezifische Risiken wir aber nicht bestimmen können. Es ist dieselbe Logik, die auch dem Klimawandel zugrunde liegt, nur dass bei diesem die Zeitverläufe noch länger gestreckt sind. Die Ausbreitungsprozesse des Virus dagegen werden zeitlich und räumlich erfahrbar, weil sie sich nicht über Jahre oder Jahrzehnte und im Abstrakten entwickeln, sondern das Virus, dank seines exponentiellen Wachstums, wie in einem Zeitraffer an uns heranrückt. Dabei wird uns auch zum ersten Mal in einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung vor Augen geführt, was exponentielles Wachstum überhaupt bedeutet. Im Anfangsstadium einer exponentiellen Entwicklung erscheint die Wachstumskurve nämlich linearen Wachstumsformen vergleichbar, die leicht kontrollierbar sind. Die Vermehrung von 2 auf 4 oder 16 Krankheitsfälle erscheinen klein und unbedeutend, wenn es aber in wenigen Tagen um eine Vermehrung von einer dreistelligen auf eine sechsstellige Anzahl an Betroffenen geht, wird deutlich, dass die quantitativen Veränderungen qualitative Transformationen zur Folge haben.
Navigieren statt Kontrollieren
Die Phänomene des Anthropozäns transzendieren unsere Erfahrungsräume, zeitlich wie räumlich. Wir benötigen kulturelle Techniken, die es ermöglichen, uns auf verschiedenen Skalierungsebenen zu bewegen. Das gilt nicht nur für rationale Verfahren, sondern es geht auch darum, die Sensibilität dafür zu entwickeln, dass unser Tun in Europa Auswirkungen in anderen Teilen der Welt wie auf nachfolgende Generationen hat. Deshalb kann nationale Abschottung nicht die Antwort auf die Herausforderung der Pandemie sein. Deshalb muss es globale Strategien für das Gesundheitssystem geben.
Die anthropozäne Welt ist eine Welt, in der es kein Außen mehr gibt. Da menschliches Wissen und Technologie den Planeten als Ganzes transformiert, sind Menschen als Akteur*innen immer auch Teil des Geschehens. Wir stellen permanent die Welt her, der wir dann ausgesetzt sind. Das Coronavirus verbreitet sich dank der Mobilität seines Wirtes Mensch auf dem gesamten Planeten. Deshalb gibt es keinen Ort, an den wir uns zurückziehen können, um von dort aus, geschützt vor dem Virus, auf die Erde zu blicken. Wir müssen unser Handeln und Denken als immanenten Teil dieser Prozesse begreifen.
Auch deshalb müssen wir lernen, in dieser Welt zu navigieren. Die Idee, dass sich mit diesem Wissen die Welt beherrschen ließe, erweist sich dabei als Illusion. Navigieren heißt, sich als Teil materieller und intelligenter Austauschprozesse zu verstehen und nicht als Teil einer stabilen Welt, für deren Probleme es eineindeutige Antworten gibt. Nicht zuletzt deshalb erweisen sich autoritäre Führungsmodelle als Scheinlösungen.
The Great Acceleration oder die Umkehrung der Zeit
Das Virus und damit die Pandemie breiten sich aufgrund der anthropozänen Lebensformen mit einer bisher ungekannten Schnelligkeit aus. Aktuelle Wissensmodelle und technologischen Strukturen sind darauf nicht vorbereitet. Lokale medizinische Infrastrukturen kollabieren. Aus diesem Grund wird jetzt mit Milliardenbeträgen Zeit gekauft um Lösungen für die existentielle Bedrohung entwickeln zu können. Es sind Geldsummen notwendig, die jede menschliche Vorstellung übersteigen, um kompensatorisch auf die von uns Menschen verursachte Problemlage zu reagieren. Diese ist eng verbunden mit der Great Acceleration, bei der die Wissensprozesse der letzten Jahrzehnte vor allem im Hinblick auf ihre technologische Anwendbarkeit und Profitabilität, aber nicht im Hinblick auf den gesellschaftlichen Nutzen und Sinn hin entwickelt wurden.
Treiber der Great Acceleration ist die Skalierungslogik – dabei geht es darum, möglichst große Stückzahlen herzustellen. Dies hat planetarische Konsequenzen: So haben wir Menschen in der Vergangenheit Strukturen geschaffen, die unsere Zukunft verbauen. In diesem Sinne wurde der Zeitvektor umgedreht: Die Zukunft liegt hinter uns und die Vergangenheit vor uns. Zur Dialektik anthropozäner Prozesse gehört dabei auch, dass sie mit dem Versprechen einer besseren Zukunft in Gang gesetzt wurden. Deshalb muss es nun darum gehen, die gesellschaftliche Bedeutung technologischer und ökonomischer Entwicklungen wieder in den Vordergrund zu rücken. So wichtig die Expert*innen bei der Lösung der aktuellen Probleme auch sind – die Frage, welche Gesellschaft wir wollen und welche Entwicklungen dazu beitragen können, muss in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Wenn der Sinn und die Bedeutung des Strebens nach Entwicklung wieder in einem größeren zivilgesellschaftlichen Kontext politisch debattiert wird, hat dies höchstwahrscheinlich eine gewisse Entschleunigung der Prozesse zur Folge. Diese könnte sich aber langfristig sogar als kostengünstiger als die teuer erkauften Vollbremsungen der letzten Jahre erweisen.
Das Anthropozän ist nicht gerecht
Die anthropozäne Welt beruht auf gigantischen technologischen Infrastrukturen, die sich über den ganzen Planeten erstrecken – von Staudämmen über Raffinerien, Flughäfen, Straßen- und Eisenbahnnetzen bis zu Ölpipelines, Lieferketten zwischen verschiedenen Produktionsstandorten und digitalen Infrastrukturen mit ihren weltumspannenden Kabelnetzwerken und Serversystemen. Diese Infrastrukturen werden mehr und mehr digital miteinander vernetzt und entwickeln sich zu einer eigenen Sphäre, der Technosphäre. Die Technosphäre ist äußerst kapitalintensiv und führt zur Akkumulation von ökonomischer Macht.
Statt neuen Formen der Solidarität mit den vom Virus am härtesten Betroffenen im globalen oder auch nur Europas Süden zu suchen, schottet sich der Norden systematisch ab.
Dies hat zwei Konsequenzen, die durch die Coronakrise aufgedeckt werden: Die Herstellung der Infrastrukturen, die für die Beschleunigungsphänomene des Anthropozäns verantwortlich sind, hat Gelder aus Bereichen abgezogen, die nicht im engeren Sinne produktiv für diese Entwicklung waren. Dies gilt insbesondere für das Gesundheitswesen und innerhalb dessen für die Betreuungsberufe. Die schnelle Ausbreitung des Virus trifft auf Gesundheitssysteme, die in vielen Ländern in einem desolaten Zustand sind und in keiner Weise vorbereitet auf eine von anthropozänen Prozessen beschleunigte Pandemie. Hinzu kommt, dass die ursprünglichen Verbreiter*innen der Pandemie Akteur*innen der globalisierten Welt sind, Menschen, die aus wirtschaftlichen oder touristischen Gründen Grenzen und Kontinente überqueren. Betroffen von der Pandemie sind aber auch sehr viele Menschen des globalen Südens, die von diesen Prozessen nicht profitieren, aber ihnen ausgesetzt sind. Ihnen stehen fast keine Mittel zur Verfügung, sich gegen die Ausbreitung des Virus zu wehren. Viele verlieren ihre Jobs aufgrund der Wirtschaftskrise, Tagelöhner*innen können sich nicht mehr frei bewegen, ihnen fehlt der tägliche Lohn für ihre Arbeitskraft. Wer trotz der schlechten Versorgung nicht krank wird, gerät aufgrund der kollabierenden Ökonomien in eine existentielle Bedrohungslage.
Die Politik erobert das Primat gegenüber der Ökonomie zurück, jedoch ohne die eigene globale Verantwortung zu akzeptieren.
Statt neuen Formen der Solidarität mit den vom Virus am härtesten Betroffenen im globalen oder auch nur Europas Süden zu suchen, schottet sich der Norden systematisch ab. Und die neuen Nationalist*innen nutzen unter völliger Verkehrung der wirklichen Ursachen die Wohlstandsängste aus, indem sie die alten Metaphoriken von Infektionskrankheiten neu beleben. Die Rede von der Invasion des Virus von außen wird gleichgesetzt mit der Bedrohung durch Migration aus den armen Ländern. Alte Rassismen dienen der Befeuerung einer martialischen Rhetorik, die darauf drängt, die Grenzen dicht zu machen. Hier zeigt sich erneut die Gerechtigkeitslücke, die auch bei anderen anthropozänen Phänomenen wie dem Klimawandel eine grundlegende Rolle spielt. Die am stärksten Betroffenen sind nicht die Verursacher*innen der Prozesse. National aber auch global bedarf es politischer Strategien, die diese Gerechtigkeitslücke schließen. Im nationalstaatlichen Rahmen erfolgt nicht nur in Deutschland zur Zeit angesichts der Pandemie eine solche politische Neubewertung, aber nur für die eigene Bevölkerung. Die Politik erobert das Primat gegenüber der Ökonomie zurück, jedoch ohne die eigene globale Verantwortung zu akzeptieren. Milliarden werden eingesetzt, um die am meisten Gefährdeten, ältere und kranke Menschen, im Innern zu schützen. So richtig dieser Schritt ist, löst er nicht das globale Gerechtigkeitsproblem. Und es stellt sich die Frage, ob die politische Rekalibrierung des Systems nur dazu dienen soll, einen Ausnahmezustand zu überbrücken, um dann wieder zu den alten Logiken zurückzukehren.
Erscheint inmitten der Krise die entschlossene staatliche Intervention als Gebot der Stunde, so lauert doch gleichzeitig die Gefahr des Überwachungsstaates, der seine Bürger*innen nicht nur schützt, sondern auch kontrolliert.
Was, wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird?
Die Infrastrukturen der Technosphäre haben mittlerweile eine solche Komplexität erreicht, dass sie sich der Kontrolle entziehen und unsere Freiheitsräume und damit unsere Zukunft zubauen. Die Bekämpfung der Pandemie in China, die zunächst nur die Speerspitze dieser Entwicklung deutlich macht, führt in besonders eindrücklicher Weise vor Augen, was alle Gesellschaften vor enorme Herausforderungen stellt: Die Mobilität und technische Durchdringung aller Lebensbereiche erzeugt zunehmend Phänomene, die scheinbar die totale Überwachung und Kontrolle aller sozialen Abläufe notwendig machen.
Erscheint inmitten der Krise die entschlossene staatliche Intervention als Gebot der Stunde, so lauert doch gleichzeitig die Gefahr des Überwachungsstaates, der seine Bürger*innen nicht nur schützt, sondern auch kontrolliert. Die Pandemie hat mit den Strukturen der anthropozänen Welt einen Ausnahmezustand erzeugt, der die demokratischen Gesellschaften auf den Prüfstand stellt, nicht zuletzt weil der Ausnahmezustand zur Regel werden könnte. Diese Herausforderungen erzwingen eine grundsätzliche Reflexion der Kategorien, die die Grundlagen der anthropozänen Welt bilden, und die ihre Wurzeln in der Entwicklungsgeschichte der westlichen Moderne haben.
Der kapitalistische Angriff auf das Leben und den Planeten
Für lange Zeit bestand das Versprechen der westlichen Moderne darin, die Freiheit und Autonomie jedes Menschen zu garantieren. Dieses Autonomieversprechen wurde aber historisch damit erkauft, dass einerseits die Natur zur ausbeutbaren Ressource erklärt wurde. Dank Technologieentwicklung und kapitalistischen Wirtschaftens wurde dies in den letzten Jahrhunderten auch in einem zuvor nie gekannten Maße möglich. Voraussetzung dafür war über Jahrhunderte, dass viele nichtwestliche Gesellschaften von dieser Reichtumsakkumulation ausgeschlossen wurden, indem sie nicht der Zivilisation, sondern der auszubeutenden Natur zugerechnet wurden.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich von kapitalistischen Wirtschaftsformen getrieben Konsumgesellschaften, in denen das ursprüngliche Freiheitsversprechen der Moderne mehr und mehr als Recht auf uneingeschränkten Konsums ausgelegt wurde: die Möglichkeit für Einzelne, zu jeder Jahreszeit alle erdenklichen Produkte kaufen und überall hin reisen zu können, wurde zu einer grundlegenden Antriebskraft der Great Acceleration und damit des Anthropozäns. Die Logiken der Konsumgesellschaft plünderten die Ressourcen des Planeten und brachten ihn an den Rand des Kollapses.
Die digitale Revolution am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts versprach dann die Möglichkeit, rund um die Uhr mit dem ganzen Globus vernetzt zu sein und damit den Freiheitsgrad im Sinne der Kommunikation und Information noch einmal zu potenzieren. Das Freiheitsversprechen von subjektiver Entfaltung und der Demokratisierung des Wissens wurde aber im Laufe der Entwicklung mehr und mehr durch Geschäftsmodelle funktionalisiert, die die Orientierung der Bürger*innen im Netz zur Datenerhebung nutzen und im Sinne eines digitalen Kapitalismus als Ware verkaufen. Damit wurde nach der Verwüstung des Planeten das Leben selbst zur ausbeutbaren Ressource. An die Stelle des Kolonialismus in der Frühphase des Kapitalismus tritt nun ein Wirtschaftsmodell, dessen Akteur*innen wenige Plattformen und Corporations sind. Das Geschäftsmodell beruht nicht mehr auf dem Ausschluss und der Unterdrückung großer Teile der Weltbevölkerung, sondern operiert mit der Aufforderung an die individuellen Nutzer*innen, ihre Freiheitsspielräume zur ständigen Perfektionierung ihres Lebens auszuschöpfen. Als scheinbare Akteur*innen der digitalen Welt werden sie dabei zu den Ressourcen datenkapitalistischen Ökonomie transformiert.
Auch die Viren sind Teil der menschlichen Lebenswelt, in der Tat begleiten sie das Leben von Anfang an.
Das Autonomie-Projekt der Moderne entwickelte sich damit mehr und mehr zu einem Ökonomieprojekt und damit zu einem Angriff sowohl auf den Planeten als auch das Leben. Ging es in dem ursprünglichen Aufklärungsversprechen auch noch darum, die Autonomie der Einzelnen im Sinne eines politisch-philosophischen Projektes zu schützen, u. a. vor der Macht des Staates und der Kirche, so hat der Kapitalismus daraus die Forderung gemacht, jedem Individuum möglichst unbegrenzt Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Aus einem Schutzprojekt wurde so ein kapitalistisch getriebenes Expansionsprojekt.
Technologie macht Natur scheinbar uneingeschränkt konsumierbar
Im Zentrum dieses Expansionsprojektes stand das Einzelindividuum, das im Laufe der Zeit aus seinen sozialen wie natürliche Beziehungen herausgelöst wird. Diese Beziehungen hatten ursprünglich immer einen passiven oder rezeptiven und einen aktiven oder Tätigkeitsaspekt. Eine Bäuerin muss Wetterbedingungen wie Zeitzyklen beim Bepflanzen der Böden berücksichtigen. Sie nimmt buchstäblich Rücksicht auf die Natur, versteht sich nicht nur als Akteur*in sondern auch als Teil des Ganzen. Sie kann deshalb nicht unbeschränkt produzieren. Heutige Tomatenfabriken in Südspanien etwa stellen eine ganzjährig nutzbare Natur technologisch her. Hier stellt Technologie Natur scheinbar unbeschränkt zur Verfügung. Diese anthropozäne Natur ermöglicht den ganzjährigen Konsum spanischer Tomaten. Die wahren Kosten dieser konsumptiven Expansion treten in den Berechnungen normalerweise nicht auf. Sie bestehen in der Ausbeutung schlechtbezahlter Arbeitskräfte aus Afrika und der Ausschöpfung des Grundwassers. Ein ganzheitliches Gesellschafts- und Naturmodell, das überlebensfähig sein will, muss aber Rücksicht auf alle Akteur*innen und die Natur nehmen.
Die Geschichte des Lebens ist auch eine Geschichte der Viren. Es fehlt ein Sensorium für diese Welt, die konstitutiv für die unsere ist.
Auch die Viren sind Teil der menschlichen Lebenswelt, in der Tat begleiten sie das Leben von Anfang an. Gut die Hälfte unseres Erbgutes besteht aus verstümmelten Viren. Die Geschichte des Lebens ist auch eine Geschichte der Viren. Obwohl ein naturwissenschaftliches Wissen über diese Langzeitrolle der Viren in unserer Welt existiert, blenden viele Menschen sie aus unserem Weltverständnis aus. Sie werden von einem Weltmodell an den Rand gedrückt, das auf Konsum basiert, passen in dessen Logik nicht hinein. Es fehlt ein Sensorium für diese Welt, die konstitutiv für die unsere ist. Deshalb wird die Ausbreitung des Coronavirus von vielen wie ein Überfall von Außerirdischen empfunden und auch so beschrieben. Da wir keine Umgangsweisen für die sogenannten Randbedingungen unserer auf den Individualkonsum ausgerichteten Lebensform entwickelt haben, sind wir gezwungen, „whatever it takes“ an Geld einzusetzen. Dieses „whatever it takes“ ist die Kompensation für ein Lebensmodell ungebremsten, auf Individuen abgestimmten Wachstums, das diese als konsumptive Einheiten aus ihren Umweltbezügen löst. Die Folgen des Klimawandels, die bisher auch als nichtintendierte Nebeneffekte des dominanten Weltmodells verbucht wurden, die Verknappung von Grundressourcen wie Wasser könnten die nächsten Krisen auslösen. Es könnte aber auch um Fragen der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Ressourcen des Planeten gehen angesichts einer Überbelastung staatlicher und sozialer Strukturen vor dem Hintergrund der Pandemie in den Ländern des globalen Südens.
Die Logik der Relationen muss an die der Skalierung treten
Da dieses „whatever it takes“-Krisenmanagement nicht unbegrenzt angewandt werden kann, besteht die Herausforderung der Corona-Pandemie darin, neue Lebensmodelle zu entwickeln. Es muss darum gehen, Praktiken und Denkformen, ja ein neues Alphabet des Lebens und Zusammenlebens zu entwickeln, das die Einzelnen nicht als abgeschottete Monaden versteht, sondern sie als in eine komplexe Welt von Beziehungen eingebettet begreift. Um diese Austauschbeziehungen mit der materiellen und sozialen Welt im Sinne eines dynamischen Gleichgewichts zu erhalten, kann es nicht nur um die Durchsetzung der eigenen Interessen gehen; gleichzeitig muss ein Sensorium für die Anderen und die Welt entwickelt werden. Dieses muss in einem Geben und Nehmen bestehen, in einem Einwirken auf, aber auch Sorge um die Welt, um eine persönliche Entfaltung, die aber die Solidarität mit den Anderen mit einbezieht. Zur Entwicklung dieser Praktiken ist auch eine neue Raumpolitik nötig: Es braucht kleine, dezentrale lokale und regionale Einheiten, die für alle Akteur*innen einen gemeinsamen Erfahrungsraum darstellen.
Auf dieser Grundlage gilt es, Mikroökonomien und -politiken zu entwerfen. Diese Erfahrungsräume könnten dank digitaler Kommunikationsstrukturen weltweit miteinander vernetzt sein. Allerdings sollte diese Vernetzung nicht durch Plattformen erfolgen, sondern durch Strukturen, die Nutzer*innen unmittelbar in Kontakt bringt, um den dezentralen Charakter der Kommunikation aufrechtzuerhalten. Diese ökonomischen und politischen Strukturen würden dann auf einer Logik der Relationen und nicht auf einer Logik der Skalierung aufbauen, bei der es nur um möglichst große Stückzahlen, um immer größeren Profit geht – mit planetarischen Konsequenzen. In der Relationenlogik treten gleichwertige Einheiten, die jeweils lokale Strategien verfolgen, miteinander in einen Austausch. So wird menschliches Handeln wieder zurück an überschaubare Kontexte gebunden.
Welche Welt wollen wir?
Angesichts des Coronavirus hat sich in unseren Gesellschaften ein kleines Fenster geöffnet, um Handlungsspielräume zu gewinnen. Dieses Fenster gilt es ein Stück weit offen zu halten. Satelliten haben in den letzten Tagen Bilder aus Industrieregionen gesandt, deren Luft in der Vergangenheit völlig verschmutzt war. Jetzt wird die Atmosphäre klarer. Die Erde scheint an einigen Stellen durchzuatmen. Wir sollten ihrem Beispiel folgen und die Zeit nutzen, um die Frage zu beantworten, welche Welt wir wollen.
In seinen fotografischen Arbeiten untersucht Armin Linke die menschengemachten Strukturen und Technologien, welche den Planeten Erde an die Schwelle des Klimawandels und des Anthropozäns gebracht haben. Die hier verwendeten Arbeiten waren Teil der vom HKW präsentierten Installation Carceri d’Invenzione auf der XXII. Triennale di Milano und der Ausstellung Blind Sensorium. Il paradosso dell'Antropocene in Matera.
Eine kürzere Version des Textes ist in der Wissenschaftsbeilage der FAZ vom 29.04.2020 erschienen.