Diversity als Etikettenschwindel?
Von Alice Lanzke
Ein Gespräch mit Sharon Dodua Otoo, Schriftstellerin und Aktivistin, und Sandrine Micossé-Aikins, Kunstwissenschaftlerin und Kulturaktivistin, über die Marginalisierung nicht-weißer Künstler*innen im deutschen Kulturbetrieb.
Immer noch ist der deutsche Kulturbetrieb weiß und nicht selten auch männlich dominiert. Nicht-weiße KünstlerI*innen und Kulturschaffende müssen um Anerkennung kämpfen und darum, unabhängig von stereotypen Labels wie „exotisch“, „afrikanisch“ oder „migrantisch“ zu arbeiten. Diese Bilanz zogen Sharon Dodua Otoo und Sandrine Micossé-Aikins in ihrem Essayband „The Little Book of Big Visions“ bereits 2012. Die beiden Kulturaktivistinnen sind seither selbst stark in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt: Micossé-Aikins leitet seit Mai 2016 die Geschäftsstelle des Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung, im Juli des gleichen Jahres wurde Otoo für ihren Text „Herr Gröttrup setzt sich hin“ mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Doch bedeuten ihre persönlichen Erfolgsgeschichten, dass sich für nicht-weiße Künstler*innen doch allmählich etwas verändert? Oder ist es noch zu früh für Optimismus?
Was hat sich seit der Veröffentlichung Ihres Buches in der deutschen Kulturlandschaft geändert?
Sandrine Micossé-Aikins: Es gibt mittlerweile Leuchtturmprojekte wie etwa das „Ballhaus Naunynstraße“ und das Gorki-Theater mit ihren IntendantInnen Şermin Langhoff, Tunçay Kulaoğlu und Wagner Carvalho in Berlin. Beide Häuser stehen für eine Strategie, die zuvor nie verfolgt wurde, nämlich in Institutionen zu investieren, die eben nicht Mainstream-weiß dominiert sind.
Aber woher kommt diese weiße Hegemonie?
Sharon Dodua Otoo: Im Moment beschäftigen mich die Fragen, wer auf welcher Ebene repräsentiert wird, wer Zugang zu finanziellen Ressourcen hat und wer wiederum über diese Ressourcen entscheiden kann. Ich lerne, dass hier vor allem die persönlichen, informellen Netzwerke entscheidend sind.
Sandrine Micossé-Aikins: Es ist auch ein Problem der Prekarität: Um sich dafür zu entscheiden, in diesem Feld zu arbeiten, muss man privilegiert genug sein, sich das zu trauen. Und diejenigen, die sich trauen, landen oft in einem Bereich, der ihnen erlaubt, die Miete zu bezahlen. Das ist bei mir nicht anders: Ich habe eigentlich Malerei studiert und mache jetzt einen Verwaltungsjob.
Aber gilt nicht gerade die Kultur als progressiver Teil der Gesellschaft?
Sandrine Micossé-Aikins: Das ist nur ein Image. Der deutsche Mainstream-Kulturbetrieb identifiziert sich nicht wirklich mit dem Begriff „diskriminierungskritisch“. Lieber werden Vokabeln wie „international“ oder „Diversity“ benutzt – Ausschlüsse, Hierarchien und Macht werden so nicht thematisiert. Die idealisierte Vorstellung von der freien Kunst bedeutet gleichzeitig die irrige Annahme, dass der Kulturbetrieb automatisch allen gleich zugänglich wäre – ohne darüber zu sprechen, dass auch die Kunst ein kapitalistisches System ist, das Menschen mit Gewalt raushält.
Bezieht sich diese Kritik nur auf den deutschen Kulturbetrieb?
Sandrine Micossé-Aikins: Dieser ist im internationalen Vergleich sicherlich sehr provinziell. Bis auf wenige Ausnahmen zeigt sich der Kulturbetrieb immer noch sehr homogen und weiß. In anderen Ländern bedeutet ein „diverser“ Raum, dass auch Personen of Color angemessen repräsentiert werden.
Sharon Dodua Otoo: Ich steige ja gerade in den Literaturbetrieb ein und habe dabei lauter Fragezeichen im Kopf. Nach dem Preis wurde ich vor allem als Britin bezeichnet. Aber wird mir dabei nicht abgesprochen, mich in Berlin zu Hause zu fühlen? Und warum ist mein Britisch-Sein okay, mein Schwarz-Sein aber eher ein Tabu, obwohl das viel mehr mit meinem Alltag und meiner Identität zu tun hat? Über diese Frage von Nationalität im deutschen Kulturbetrieb muss ich noch mehr nachdenken.
Auf die Gefahr hin, eine Worthülse zu benutzen: Warum ist in Deutschland so schwer, Diversity im Kulturbetrieb durchzusetzen?
Sandrine Micossé-Aikins: Anstatt funktionierende Diversity-Konzepte aus anderen Bereichen zu übernehmen, werden immer wieder einzelne migrantische AkteurInnen in die Institutionen geschickt in der Hoffnung, dass sich so etwas ändert – und das gilt hier ausschließlich für Projekte, die sich „Diversifizierung“ oder „Öffnung“ auf die Fahnen schreiben. Fernab dieser Projekte ist es allerdings grundsätzlich sogar eher so, dass überhaupt kein Interesse daran besteht, marginalisierte Minderheiten und ihre Perspektiven in die eigene Institution aufzunehmen.
Sharon Dodua Otoo: Genau, Diversity wird hierzulande immer personalisiert: Anstatt über grundsätzliche Strukturen zu reden, geht es ständig um individuelle Lebensgeschichten.
Warum ist das so?
Sandrine Micossé-Aikins: Weil das ernsthafte Interesse am Wandel fehlt. Bei den meisten Projekten ist Diversity nur ein Etikett, ein Verkaufsargument. Hinzu kommt Ignoranz: Menschen, die nicht davon betroffen sind, merken gar nicht, wie ausschließend die Strukturen sind. Grundsätzlich wird in Deutschland kaum über Rassismus gesprochen, so dass man nicht weiß, wie er funktioniert.
Sharon Dodua Otoo: Zu viel Diversity wird als Bedrohung empfunden, als etwas, das man aushalten muss, anstatt die Potenziale dieser Ressource zu sehen.
Resigniert man angesichts dieser Hürden nicht als Schwarze KünstlerIn?
Sharon Dodua Otoo: Es wird immer wichtiger, eigene Räume zu kreieren, in denen man frei arbeiten kann. Schwarze Kulturschaffende in Deutschland müssen Widerstände mit einkalkulieren. Aber ich sehe keine Resignation.
Sandrine Micossé-Aikins: Ich beobachte, dass viele von den wenigen, die sich im Mainstream-Kulturbetrieb etablieren konnten, nach einigen Jahren aufgeben und versuchen, andere Wege zu gehen. Die freie Szene ist dabei eine Alternative jenseits der großen Institutionen. Denn in eben jenen etablierten Institutionen müssen sie sich beschneiden und dürfen bestimmte Themen nicht ansprechen. Andere verlassen Deutschland.
Sharon Dodua Otoo: Und dann gibt es noch diejenigen, die sich anpassen und sogar diskriminierungssensiblen Diskursen kritisch gegenüberstehen.
Sandrine Micossé-Aikins: Genau, viele von denen, die doch in den Institutionen bleiben, haben oft gar keinen Community-Bezug. Die flutschen so durch, weil alle so tun, als wären sie nicht of Color. Und wenn du sie darauf ansprichst, kommt als Reaktion: „Don’t blow my cover!“
Wenn man nun Kritik an diskriminierenden Strukturen übt, wird schnell mit dem Vorwurf überzogener Political Correctness, der Diktatur der Minderheit oder der Zensur gekontert. Wie erklären Sie sich solche heftigen Reaktionen?
Sharon Dodua Otoo: Gar nicht. Zensur können ja nur diejenigen ausüben, die Macht haben.
Sandrine Micossé-Aikins: Für mich ist das nur eine von vielen Strategien, um Leute zum Schweigen zu bringen und um Kritik zu delegitimieren.
Ich habe den Eindruck, dass viele so heftig reagieren, weil sie Angst haben, dass ihnen etwas weggenommen wird.
Sandrine Micossé-Aikins: So ist das eben mit Privilegien. Wenn man sie hat, fühlt sich Gerechtigkeit an, als würde einem etwas weggenommen.
Als nicht-weiße Künstlern hat man nicht nur mit der strukturellen Marginalisierung zu kämpfen, sondern oft auch mit stereotypen Schubladen. So werden etwa auf die Arbeiten von Schwarzen Kulturschaffenden schnell Labels wie „exotisch“ oder „afrikanisch“ geklebt.
Sandrine Micossé-Aikins: Mittlerweile gibt es einen neuen Fetisch im deutschen Kulturbetrieb, nämlich den der zeitgenössischen afrikanischen Kunst. Dieser weicht zwar die Vorstellung auf, afrikanische KünstlerInnen würden nur Flughafen-Schnitzereien schaffen. Am Ende bedeutet er aber doch nur wieder eine Exotisierung – genauso wie viele Projekte, die derzeit mit Geflohenen gemacht werden, so etwa im Theaterbereich: Theater, die solche Projekte durchführen, wollen ja nicht in erster Linie diversere Ensembles, sondern eben „Geflüchtete“. Das ist nicht dasselbe. Und löst auch langfristig nicht das Problem, dass Menschen of Color als KünstlerInnen keinen Zugang zu den Institutionen haben. Insgesamt ist mein Gefühl, dass es hin und her geht, aber nicht wirklich voran.
Sharon Dodua Otoo: In meinen Augen stammen viele Projekte, die wirklich einen diskriminierungskritischen Ansatz haben, ohnehin von AktivistInnen und nicht von etablierten Häusern. Ich denke da zum Beispiel an das Koordinationsteam der Konferenz von „ Vernetzt Euch! “, bei der im Oktober vergangenen Jahres über eine diskriminierungskritische Kunst- und Kulturszene diskutiert wurde.
Sandrine Micossé-Aikins: Und wenn die etablierten Häuser dazukommen, dann vereinnahmen sie den Diskurs auf entpolitisierende Weise. Es gibt einfach kaum strukturelle Veränderungen.
Sharon Dodua Otoo: Das Publikum müsste derartige Veränderungen einfordern!
Aber wie aktiviert man die Öffentlichkeit dafür?
Sandrine Micossé-Aikins: Tatsächlich sind dafür wieder öffentliche Diskurse nötig. Ich habe ohnehin das Gefühl, dass das Zeitfenster im Moment günstig ist: Bei den etablierten Akteuren herrscht ein Stück Verzweiflung, weil sie merken, dass es eben nicht so weiterlaufen kann wie in den vergangenen Jahrzehnten. Sie verlieren den Anschluss an den Rest der Welt, sie verlieren Publikum und damit an Relevanz. Gleichzeitig aber sind die Abwehrreflexe auf Forderungen nach mehr Vielfalt so tief verwurzelt, dass ich Zweifel habe, wie sich das wirklich auswirkt.
Könnten Initiativen wie „Kultur öffnet Welten“ da helfen?
Sandrine Micossé-Aikins: Solche Initiativen können einen nachhaltigen Wandel anstoßen – aber nur, wenn sie mit finanzieller Förderung verbunden und vor allem bereit sind, jenseits der großen, ohnehin schon überfinanzierten Institutionen zu fördern. Aber das wird leider grundsätzlich nicht gemacht. So lange nicht über Strukturen, Hierarchien und Ausschlüsse gesprochen wird, wird sich auch nichts ändern. Und das passiert nicht, so lange bei solchen Konzepten nicht von vorneherein politische, marginalisierte AkteurInnen miteinbezogen werden.
Sharon Dodua Otoo: Statt das Publikum aufklären zu wollen, sollte lieber eine Initiative geschaffen werden, die sich auf die internen Prozesse und Strukturen konzentriert und deren Veränderung in den Fokus nimmt.
Autor*in: Alice Lanzke